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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Namen zu protokollieren, damit sie es als »stellvertretend erledigt« in ihre Tiersichtungsbücher eintragen konnten. Für dieses Privileg hatte ich ihnen sogar jeweils fünfundzwanzig Cent abgeknöpft, aber das kleine Vermögen schon ausgegeben: Lakritze für Constance und für mich ein Paar synthetischrote Schnürsenkel.
    Mein Vater und ich verhandelten eine Weile. Schließlich war er damit einverstanden, alle Sehenswürdigkeiten der Stadt nacheinander abzuarbeiten, in einem Rundgang, um das Schuhleder zu schonen. Das Kaninchen würde zuletzt drankommen, nach dem Colorgarten.
    Als die Entscheidung, das Kaninchen in die morgendliche Vergnügungstour zumindest einzuplanen, getroffen war, widmete sich mein Vater wieder seinem Toast, dem Tee und der Lektüre des Spectrum , und ich schaute mich in dem etwas ranzigen Frühstücksraum um. Ich wollte eine Postkarte schreiben und brauchte dazu etwas Anregung. Der Grüne Drache stammte aus der Zeit vor der Epiphanie und hatte, wie manch anderes im Kollektiv auch, schon einiges hinter sich, und von seinem ursprünglichen Glanz war nicht mehr viel vorhanden. Der Anstrich blätterte, der Stuck bröckelte, die Linoleumbeläge der Tische waren bis auf das Jutegewebe abgegriffen, und das Besteck war entweder verbogen, zerbrochen, oder es fehlte ganz. Der Duft von heißem Kaffee, Toast und Schinkenspeck, die etwas schnoddrige Freundlichkeit des Personals und das laute Geplapper der Fremden untereinander, die sich ihrer flüchtigen Bekanntschaft erfreuten, verliehen dem Haus jedoch einen ganz eigenen Charme, mit dem sich die vornehmeren, hoch angesehenen Teestuben zu Hause in Jade-unter-der-Limone niemals hätten messen können. Mir fiel allerdings auch auf, dass die Gäste den Raum unbewusst nach streng chromatischen Richtlinien aufgeteilt hatten, obwohl es für die Sitzordnung an farbtonlich unspezifischen Örtlichkeiten keine ausdrücklichen Regeln gab. Dem einzigen Ultravioletten hatte man aus Respekt einen Tisch für sich allein zugestanden, und an der Tür warteten einige Graue geduldig auf einen freien Tisch, dabei waren längst nicht alle Plätze besetzt.
    Wir teilten unseren Tisch mit einem Grünen Paar. Die beiden waren fortgeschrittenen Alters und offenbar so wohlhabend, dass sie sich synthetischgrüne Kleidung leisten konnten. Jeder sollte Zeuge ihrer bedingungslosen Hingabe an ihren Farbton sein, eine demonstrative und geschmacklose Zurschaustellung, die sie sich zweifellos nur durch den Verkauf ihrer Kindallokation hatten leisten können. Unsere Kleidung war in einer konventionellen Schattierung gefärbt, sichtbar nur für Rote, sodass wir uns in den Augen der Grünen, die uns gegenübersaßen, allein durch unsere Roten Farbkennzeichen-Anstecker von den Grauen unterschieden, aber ebenso wie diese von ihnen verachtet wurden. Rot und Grün sind zwar komplementär, aber das muss nicht heißen, dass sich Rote und Grüne mögen. Das Einzige, was uns eint, ist die gemeinsame Abscheu vor den Gelben.
    »Du da«, sagte die Grüne Frau und zeigte, ausgesprochen unfein, mit ihrem Löffel auf mich. »Bring mir Marmelade.«
    Ich gehorchte pflichtbewusst. Dieses herrische Gebaren der Grünen Frau war nicht untypisch. Auf der chromatischen Skala lagen wir drei Ränge unter den Grünen, was uns offiziell dazu verpflichtete, ihnen zu Diensten zu sein. Doch auch wenn wir in der Ordnung tiefer standen, gehörten wir innerhalb des etablierten Farbmodells von Rot, Gelb und Blau doch zu den Primärfarben. Ein Roter bekäme immer einen Sitz im Rat einer Stadt – so weit würden es die Grünen mit ihrem Status als Blau-Gelbe Bastarde niemals bringen. Köstlich, wie sie sich darüber ereiferten. Im Gegensatz zu den etwas tumben Orangenen, die bescheiden blieben und ihr Schicksal gut gelaunt und bereitwillig akzeptierten, kamen die Grünen nie darüber hinweg, dass keiner sie wirklich ausreichend ernst nahm. Der Grund hierfür lag auf der Hand: Sie hatten die Farbe der Natur für sich allein gepachtet und meinten daher, der Umfang ihres Sehvermögens müsste sich in ihrer Stellung innerhalb des Kollektivs niederschlagen. Nur die Blauen konnten ihnen noch ansatzweise diesen Anteil am Spektrum streitig machen, da ihnen der Himmel gehörte. Dieser Anspruch jedoch basierte auf der schieren Ausdehnung der Farbfläche, nicht auf einer Vielzahl von Farbschattierungen, und an einem wolkigen Tag konnten sie ihn nicht einmal geltend machen.
    Falls ich gedacht hatte, der Kommandoton der Grünen Frau

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