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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Beinahe hätte ich mich mit Hilfe eines Darlehens meiner zweimal verwitweten Tante Beryl von dem Auftrag freigekauft, doch Constance Oxblood hielt gar nichts davon.
    »Was sollst du da machen?«, hatte sie mich gefragt, als ich ihr den Grund für meine Reise nach Ost-Karmin nannte.
    »Eine Stuhlzählung, mein Schätzchen«, hatte ich ihr erklärt. »Die Zentrale befürchtet, die Stuhldichte könnte unter die vorgeschriebene Marge von 1,8 pro Person gefallen sein.«
    »Wie unfassbar aufregend! Zählt eine Ottomane auch als Stuhl oder eher als großes, steifes Kissen?«
    Dann sagte sie noch, dass ich beträchtlichen Mut und löbliche Tapferkeit bewiese, wenn ich hinführe, also entschied ich mich doch dafür. Bei der Aussicht, in die Familie der Oxbloods aufgenommen zu werden und mich als präfekttauglich zu erweisen, konnte ich die Horizonterweiterung, die eine Reise und die Möbelzählung ohne Zweifel mit sich bringen würden, ganz gut gebrauchen. Vier Wochen in der eigentlich unerträglich primitiven Umgebung der Randzonen würden mir das durchaus bieten.
    Das Oz-Denkmal übertraf die Schlecht Gezeichnete Karte allein schon durch seine Dreidimensionalität. Es war eine Bronzegruppe äußerst seltsam geformter Tiere, das Ganze zwei Meter hoch und knapp anderthalb Meter breit. Nach Auskunft des Museumsführers war sie vor drei Jahrhunderten im Zusammenhang mit der EntFaktung in Stücke zerlegt und in den Fluss geworfen worden, deswegen waren nur zwei der ehemals fünf Figuren übriggeblieben. Die am besten erhaltene stellte ein Schwein dar, das ein Kleidchen und eine Perücke trug, außerdem gab es noch einen rundlich geformten Bären mit Schlips. Von der dritten und vierten Figur war fast nichts übriggeblieben und von der fünften nur zwei an den Knöcheln gestutzte Klauenfüße, die keinem heutigen Lebewesen zuzuordnen waren.
    »Für ein Schwein sind die Augen sehr groß, fast wie bei einem Menschen«, sagte mein Vater bei näherer Betrachtung. »Ich habe einige Bären in meinem Leben gesehen, aber keiner hatte einen Hut auf dem Kopf.«
    »Anthropomorphismus war damals ziemlich im Schwange«, behauptete ich kühn, aber eigentlich gehörte das längst zum Allgemeinwissen. Die Einstigen hatten noch viele andere unerklärliche Gewohnheiten, allen voran die Neigung, Fakten durch Fiktion zu verfälschen, wodurch es sehr schwierig wurde, zu unterscheiden, was tatsächlich passiert war und was nicht. Die Skulptur war zum Gedenken an Oz errichtet worden, so viel war immerhin bekannt, doch die Widmungsinschrift auf dem Sockel war bis zur Unkenntlichkeit verwittert, sodass sie zu den anderen, durch die Jahrhunderte überlieferten Geschichten um Oz in keinen nachvollziehbaren Zusammenhang gebracht werden konnte. Die »Oz-Frage« war lang und breit in Debattierclubs diskutiert, etliche wissenschaftliche Aufsätze darüber im Spectrum publiziert worden. Doch während die Smaragdstadt heute noch als Zentrum für Bildung und Qualifikation existiert und Überreste der Blechmänner in großer Zahl durch Wertgutsammel-Kommandos ausgegraben worden waren, hat sich im gesamten Kollektiv bisher kein einziger Hinweis auf Ziegelsteinwege gefunden, weder aus natürlichem noch aus synthetischem Gelb – und dass Affen fliegen können, diese Möglichkeit haben Naturforscher schon vor langer Zeit ausgeschlossen. Oz, so die weit verbreitete Meinung, war eine Fiktion gewesen, und eine höchst kuriose obendrein. Dennoch, die Bronzeskulptur war geblieben. Alles ein großes Rätsel.
    Die Exponate im Museum sahen wir uns danach nur noch flüchtig an, und auch nur die von mehr als bloß allgemeinem Interesse. Stehen blieben wir vor der Sammlung von Vimto-Flaschen, dem konservierten Ford Fiesta, der auf schamlos offensichtliche Weise auf alt getrimmt worden war, und schließlich vor dem Turner, von dem mein Vater behauptete, es sei »nicht sein Bestes«. Dann begaben wir uns ein Stockwerk tiefer und bestaunten die realistischen Darstellungen in dem lebensgroßen Gesindel-Diorama, das eine typische Homo-feralensis -Siedlung zeigte. Alles wirkte irritierend echt, voller Wildheit und ungezügelter Lust. Es basierte auf Alfred Peabodys bahnbrechendem Bericht Sieben Minuten unter Gesindel . Wir betrachteten die Schaufensterpuppen zusammen mit einer kleinen Gruppe Schulkinder, die die niedere Ordnung Mensch studierte, sicher als Teil eines Arbeitsprojekts im Fach Historische Theorie.
    »Fressen die wirklich ihre eigenen Kinder?«, fragte entsetzt eine der

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