Grave Mercy Die Novizin des Todes
nicht noch einen Tag hier liegen, während die Krähen in meinen Eingeweiden picken.«
Ich senke den Blick und sehe, dass er mit der anderen Hand – der, die ich nicht halte – seinen Bauch zusammenhält.
»Es braucht kein Gnadenstoß zu sein. Ein tödlicher Schlag wird genügen.«
»Nein, gnädiger Herr«, sage ich.
Alle Hoffnung weicht aus seinen Zügen. »Es war zu viel verlangt.«
Ich hebe den Finger an seine Lippen und heiße ihn schweigen. »Das ist es nicht, was ich meinte. Ein Held wie Ihr selbst verdient die Reliquie und all unseren Dank darüber hinaus. Ich weiß, dass die Herzogin es ebenfalls wünschen würde.«
Er lächelt schwach und drückt meine Hand, aber es ist ein kraftloser Griff.
Da ich nicht bereit bin, ihn noch länger leiden zu sehen, nehme ich die Reliquie von meiner Taille. Ich beuge mich vor, drücke ihm die Lippen auf seine geschwollene, blutüberströmte Wange, ein Kuss, so sanft, wie eine Mutter ihn ihrem Kind gibt, dann lege ich die Spitze der Reliquie an seinen Hals.
Seine Seele platzt aus seinem Körper; da ist glücklicher Jubel, als sie an mir vorbeirauscht, und ich habe das Gefühl, als sei ich in heiliges Licht getaucht. Der Leichnam auf dem Boden ist nicht mehr als eine Schale, eine Hülle, und ich bin erfüllt von einem Gefühl des Friedens. Ja, denke ich. Ja. Das ist es, was ich sein will. Ein Instrument der Gnade, nicht der Rache.
Ich stehe auf, und mein Blick erfasst all die gefallenen Männer um mich herum. Ich weiß, was ich tun muss. Ich gehe zu dem mir am nächsten liegenden gefallenen Soldaten neben de Lornays jetzt leerem Körper. Dann beuge ich mich vor und drücke ihm die Spitze der Reliquie an die Schulter. Graziös und dankbar verlässt sein Geist seinen Körper. Einmal mehr spüre ich die Berührung dieses heiligen Lichtes. »Friede sei mit dir«, flüstere ich, als seine Seele davongeht.
Ich wandere zum nächsten weiter und dann zum übernächsten. Während ich mich zwischen den Gefallenen hindurchbewege, bemerke ich etwas: Sie alle tragen ein Todesmal. Und der Tod hat sie auch ohne meine Hilfe gefunden.
Erst als ich die letzte Seele vom Schlachtfeld erlöst habe, sehe ich eine hochgewachsene, dunkle Gestalt unter den nahen Bäumen stehen. Ich versuche, genauer hinzuschauen, aber das Licht schwindet jetzt, und ich kann mir nicht sicher sein, ob ich wirklich etwas sehe oder ob es nur einer der immer länger werdenden Schatten ist. Aber nein. Irgendetwas – irgend jemand – ist dort, und er hat beobachtet, wie ich von einem Sterbenden zum nächsten ging.
Er ist hochgewachsen und ganz in Schwarz gewandet. Und still. Er verharrt ganz ruhig. Meine Hand bewegt sich nicht zu meinem Messer, denn jetzt erkenne ich Seine Gegenwart, ein leichtes, dauerhaftes Frösteln und den schwachen Duft von frisch gepflügter Erde. Mein Herz hämmert schmerzhaft in meiner Brust, und ich stehe auf, und mein Blick schwankt nicht, als ich auf den Tod zugehe.
»Tochter.« Seine Stimme ist wie das Rascheln von Herbstblättern, wenn sie von sterbenden Bäumen fallen.
»Vater?«, flüstere ich, dann falle ich auf die Knie und neige den Kopf. Jede Faser meines Seins zittert. Ich habe Angst, Sein Gesicht zu sehen, fürchte Seinen Zorn, Seine Vergeltung für all das Unrecht, das ich begangen habe, angefangen von meiner Liebe zu Duval über meinen Ungehorsam gegen das Kloster bis hin zur Erlösung der Seelen dieser gefallenen Männer.
Und doch spüre ich an diesem Wäldchen, wo der Schatten des Todes so nah ist, weder Zorn noch Vergeltung. Ich spüre Gnade. Warm und stetig wie ein Fluss strömt sie über mich hinweg. Seine Gnade überflutet mich, und ich kann nicht umhin, das Gesicht dieser Gnade entgegenzuheben, wie ich es der Sonne entgegenheben würde. Ich will lachen, als sie auf mich herabregnet, als sie durch meine Glieder gleitet und sie von Müdigkeit und Selbsthass reinigt. Ich bin in dieser Gnade wiedergeboren, und plötzlich kann ich alles tun.
Ich spüre, wie Er mich auf die Stirn küsst, ein kühles Gewicht in meinem Gesicht. In diesem Kuss liegt Absolution, ja, aber er sendet auch Verstehen. Verstehen, dass Er es ist, dem ich diene, nicht das Kloster. Sein göttlicher Funke lebt in mir, eine Präsenz, die niemals vergehen wird. Und ich bin nur eins von vielen Werkzeugen, die Er zu Seiner Verfügung hat. Wenn ich nicht handeln kann – wenn ich mich weigere zu handeln –, ist das eine Entscheidung, die zu treffen mir erlaubt ist. Er hat mir Leben gegeben, und
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