Graveminder
leise.
Die ungeheuerliche Erkenntnis, dass Maylene nicht mehr lebte, fühlte sich zu gewaltig an. Rebekkah spürte sie wie Steine in den Lungen, die es ihr schwer machten, sich zu bewegen, und anstelle von Luft den Platz einnahmen. Sie schloss abermals die Augen. »War sie … war sie lange krank?«, fragte sie. »Davon wusste ich nichts. Ich habe sie Weihnachten besucht, doch sie hat nichts gesagt. Es schien ihr gut zu gehen. Hätte ich das gewusst, wäre … wäre ich bei ihr gewesen. Bis zu Ihrem Anruf hatte ich keine Ahnung.«
Seine Antwort ließ ein wenig zu lange auf sich warten. »Rufen Sie die Fluggesellschaft an, Rebekkah! Buchen Sie einen Flug nach Hause! Die Fragen können warten, bis Sie hier sind.«
3. Kapitel
William schob sein Telefon so weit wie möglich über den Schreibtisch. »Sie ist unterwegs. Du hättest sie auch anrufen können. Du hättest es wirklich tun sollen.«
»Nein.« Byron saß neben dem Schreibtisch seines Vaters und betrachtete das Blatt mit Rebekkahs durchgestrichenen Nummern. Manche zeigten Maylenes Handschrift, andere die von Rebekkah. Sie war noch schlimmer, als er gewesen war. Das heißt aber nicht, dass ich mich überschlagen muss, um ihr beizustehen, dachte er. Er hatte nicht vor, gemein zu ihr zu sein – das konnte er gar nicht. Aber er würde ihr nicht nachlaufen, um sich erneut eine Abfuhr zu holen.
»Julia kommt nicht. Nicht einmal aus einem solchen Anlass ist sie bereit, nach Claysville zurückzukehren.« William musterte Byron eindringlich. »Rebekkah wird dich brauchen.«
Er hielt dem Blick seines Vaters stand. »Ich bin trotz allem für sie da. Das weißt du – und Rebekkah auch.«
William nickte. »Du bist ein guter Mensch.«
Bei diesen Worten schlug Byron die Augen nieder. Er fühlte sich nicht wie ein guter Mensch. Er war des Versuchs überdrüssig, ein Leben ohne Rebekkah zu führen – und vollkommen außerstande, mit ihr zu leben. Weil sie die Vergangenheit nicht loslassen kann, dachte er. Byrons Wunsch, für Rebekkah da zu sein, rang mit den Erinnerungen an ihr letztes Gespräch. Sie hatten auf der Straße vor einer Bar in Chicago gestanden, und Rebekkah hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass in ihrem Leben für ihn kein Platz war. Niemals, Byron. Begreifst du es denn nicht? Ich werde niemals diese Frau sein, weder für dich noch für einen anderen , hatte sie halb geschluchzt und halb geschrien. Und vor allem nicht für dich. Als er am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte er gewusst, dass sie wieder fort war. Sie war schon so oft verschwunden, während er schlief, dass er immer verblüfft war, wenn sie morgens noch neben ihm lag.
William stand von seinem Schreibtisch auf. Kurz klopfte er Byron auf die Schulter und ging zur Tür.
Vielleicht wollte Byron nur dem Thema ausweichen, über das er nicht nachdenken mochte, aber darüber sprechen mussten sie trotzdem. »Rebekkah hat nur ein paar Jahre lang in Claysville gelebt«, begann er, »und sie hat seit neun Jahren nicht mehr hier gewohnt.« Er hielt inne und wartete, bis sein Vater ihn ansah. »Sie wird ebenfalls Fragen haben«, schloss er dann.
So leicht gab William jedoch nicht nach. Er nickte nur. »Ich weiß«, erklärte er. »Rebekkah wird erfahren, was sie wissen muss, wenn es so weit ist. Maylene hat ihre Wünsche ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie hat ihre Angelegenheiten gut geregelt.«
»Und Maylenes Pläne … Befinden die sich alle in ihrer nicht vorhandenen Akte? Ich habe nachgesehen, musst du wissen. Sie hatte hier ein Büro, aber es gibt keine Papiere über sie. Keine Grabstätte. Keine Vorauszahlung. Nichts.« Byron sprach in gleichmütigem Ton, aber es kam ihm vor, als müsse die Verbitterung sich Bahn brechen, die er seit Jahren angesichts dieser unbeantworteten Fragen empfand. »Wenn ich ein gleichwertiger Partner im Bestattungsinstitut sein soll, solltest du irgendwann in näherer Zukunft aufhören, Geheimnisse vor mir zu haben.«
»Heute musst du nur wissen, dass Maylene keine Akte brauchte. Die Barrow-Frauen zahlen keine Gebühren, Byron. Wir pflegen Traditionen in Claysville.« William wandte sich ab und ging. Der weiche graue Teppichboden, mit dem die Gänge ausgelegt waren, dämpften seine Schritte.
»Ja, sicher«, murmelte Byron. »Traditionen.«
Diese Ausrede hatte ihre Wirkung auf Byron schon verloren, bevor er Claysville am Tag nach seinem Highschoolabschluss verlassen hatte, und in den acht Jahren, die seitdem vergangen waren, war es Byron
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