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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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Staatsbürger, vermuteter Schneeballsystembetrüger und gescheiterter Asylsuchender in Deutschland identifiziert wurde, war eine der bizarreren Geschichten, die sich aus der Infektion des Informationssystems von Schengen mit dem heute als Leela Variante acht bekannten so genannten Transpositionswurm ergab. Die »Misch«-Aktion von Leela08, die Datenbankmerkmale wahllos neu zusammenfügt, war für die Zerstörung einer riesigen Zahl von EU-Einwanderungsakten verantwortlich. Erst etwa sechsunddreißig Stunden nach Guy Swifts Abschiebung bemerkte man den Fehler und schloss das System. Der gleiche Virenbefall in Computern mit der Eurodac-Fingerabdruck-Datenbank produzierte eine Reihe falscher Beweise, bei denen Unschuldige als bekannte Kriminelle, abgelehnte Asylsuchende oder Personen im Visier europäischer Geheimdienste identifiziert wurden. Kombinationen der beiden Infektionstypen führten (nach vorsichtiger Schätzung) zu etwa dreißig irrtümlichen Zwangsausweisungen. Da die Operation Atomium sich fast ausschließlich auf zwei sehr präzise Kräfte stützte – [Schiene 1] die schnelle Identifizierung von Abschiebekandidaten durch Eurodac und die SIS; und [Schiene 2] Spezialkräfte zur Beschleunigung der Abfertigung von Abschiebekandidaten –, kam es zu einer Situation, in der (unter anderen Übergriffen) Menschen nachts aus ihren Wohnungen geholt und in irgendwelchen problematischeren Gegenden der Welt abgeladen wurden, ohne dass sie auch nur die Kleider wechseln konnten. Die ukrainischen Brüder Pyotr und Yuri Kozak knüpften eine Verbindung zu Mitgliedern eines russischen Ölforschungsteams, das sie entdeckte, als sie vor einer Bar in Port Harcourt, Nigeria, bettelten. Eine pakistanische Großmutter, die 71-jährige Noor Begum, die auf Besuch bei ihrer Familie in Bradford gewesen war, wurde durch eine religiöse Wohlfahrtseinrichtung aus dem Jemen in ihre Heimat zurückgebracht.
    Darum gebeten, Tirana zu beschreiben, schüttelt Guy Swift den Kopf. »Ich möchte über diesen Ort nicht sprechen«, murmelt er. Nach seiner Rückkehr sagten Ärzte von ihm, er sei »in schlechter körperlicher Verfassung«. Wie die sechsundzwanzig Tage waren, die er in Tirana zubrachte, können nur Aussagen von Albanern vermuten lassen, die einen Mann, auf den seine Beschreibung passt, hinter Restaurants im Stadtzentrum nach Speiseresten haben stöbern sehen.
    Der einzige Aspekt seines Aufenthalts in Albanien, über den Guy zu reden bereit ist, ist die Freundlichkeit, die ihm von jemandem namens Rudolph erwiesen wurde, einem siebzehnjährigen Liberianer, den er im Hafen von Durrës nahe der Fährenanlegestelle kennen lernte. Rudolph war es, der ihm half, seine Uhr, die er wunderbarerweise hatte retten können, gegen einen Platz auf einer der regelmäßigen Motorboottouren zu tauschen, die künftige Europäer zur italienischen Küste brachten.
    Das Boot war ein kleines Schlauchboot, das zwei Besatzungsmitgliedern und vier weiteren Passagieren Platz bot, einem Paar aus Bangladesch mit seinen zwei Kindern. Das Meer war kabbelig und die Sicht schlecht. Als die Lichter einer Zollbarkasse in der Ferne sichtbar wurden, warfen die beiden Schlepper alle fünf auf der Stelle ins Meer. Als Guy über Bord fiel, erinnert er sich, habe er das absolut sichere Gefühl gehabt, dass er ertrinken werde. Wenn man ihn fragt, was ihm durch den Kopf ging, verweigert er eine Antwort. Es war, sagt er, »reines Glück«, dass er in die richtige Richtung schwamm. Kurz vor Morgengrauen wurde er an einem Touristenstrand südlich von Bari ans Ufer geschwemmt. Beim ersten Tageslicht fand man ihn halb bewusstlos, Unverständliches vor sich hinmurmelnd und mit beiden Händen europäischen Sand umklammernd. Was den Bangladeschis zugestoßen ist, wisse er nicht, sagt er.

    Das Thema Guy Swift beherrschte zwei oder drei Tage nach seiner Rückkehr die Medien. Arjun Mehta dagegen, der »teuflische Wissenschaftler« (New York Post), dessen »verqueres Genie« (Evening Standard, London) die Welt mit einer »technischen Kernschmelze« (Daily Telegraph, Sydney) bedrohte, ist seit dem Augenblick, als er von verlässlichen Zeugen das letzte Mal im Riverside Motel in San Ysidro gesehen wurde, kaum aus den Schlagzeilen verschwunden. Trotz eines immensen Aufwandes an Polizei, Zeit und Geld ist Mehta, dessen Foto inzwischen zu den weitestverbreiteten der Welt gehört, nie ergriffen worden. Beim FBI nimmt man an, dass er nicht mehr am Leben ist, eine Meinung, die vor kurzem noch

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