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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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blauen Glasur zu verraten. Trotz seiner Begeisterung ist er nicht der allerbegabteste Töpfer, aber seine Stücke, mögen sie auch klobig und unregelmäßig sein, haben einen gewissen Charme. Es sind ehrliche Töpfe. Der neue Guy Swift ist ein ehrlicher Mann.
    Ragdale Scar, die Felswand hinter dem Cottage, spielt eine Schlüsselrolle in Guys Leben. Sie ist die Quelle, sagt er, seiner Heilkräfte. Er hatte wenig Erfolg mit dem Verkauf seiner Töpferarbeiten, und obwohl er in einer nahen Dorfkneipe einen Zettel ausgehängt hatte, ist auch noch niemand zu ihm gekommen, um sich in geopathischer Hinsicht wieder auf Vordermann bringen zu lassen, trotz des vorbehaltlosen Rückzahlungsangebots.
    Um sein Stempelgeld aufzubessern, hat er in letzter Zeit begonnen, einer Gruppe von Männern aus der Gegend bei der Reparatur von Feldmauern zu helfen.
    Sein best gehüteter Besitz ist eine kleine Flasche, die mit Sand gefüllt ist. Der stammt von dem Strand in Apulien, an dem er von Carabinieri in einem Zustand gefunden wurde, den der britische Konsul in Neapel trocken als »äußerste Notlage« bezeichnete. Guy war von einer Crew albanischer Schlepper in einiger Entfernung von der Küste aus einem Schlauchboot ins Meer geworfen worden. Die Geschichte, die er der Polizei erzählte, war kaum zu glauben, und als sie sich als wahr herausstellte, erregte sie Aufsehen in der gesamten Europäischen Union, nicht zuletzt in den Büros der gerade entstehenden gesamteuropäischen Grenzbehörde, die später als direkt verantwortlich bezeichnet wurde.
    Auch ihn traf, meint er, ein Teil der Schuld. Besinnungslos betrunken und in grauenhafter Verfassung ließ er es zu, sich von einer Nutte in einen unbekannten Vorort einer fremden Stadt locken zu lassen. Er beschreibt sich heute mit einem gewissen prüden Abscheu als einen »Trinker und Drogensüchtigen«, obwohl diese Charakterzüge, räumt er ein, Anzeichen des verzerrten Erdmagnetismus seines Wohn- und Arbeitsumfeldes waren. Er hat keine genaue Erinnerung, was mit ihm passiert war, seit er mit der Frau, die er als Irina kannte, den Erotikclub verlassen hatte und einige Zeit später auf einem Bett in einem kleinen Zimmer mit grünen Tapeten mit Bambusmuster total unbekleidet wieder aufgewacht war. Schwarze Plastikbahnen waren über das Fenster geklebt. Von dem Bett und einer ramponierten Resopalfrisierkommode abgesehen, war das Zimmer leer.
    Ihm tat der Kopf weh, und nackt war er bis auf seine Krawatte, die ihm wie ein japanisches Stirnband um den Kopf geschlungen worden war. Auch seine Armbanduhr hatte er noch um, die ihm anzeigte, dass es 5.10 Uhr morgens war, was ihn wegen der Auftragssitzung später am Tag in Panik versetzte. Er fand seine Kleider unter dem Bett und wankte zur Tür hinaus, wo er sich im Treppenhaus eines Wohngebäudes wiederfand. Die Tür auf der anderen Seite des Treppenabsatzes stand offen, und durch sie blickte er in ein Schlafzimmer voller Chinesen, die zu zweit oder dritt auf Bettgestellen saßen, rauchten und unter Leinen mit trocknender Wäsche Karten spielten. Er überlegte, ob er sich in einer Art Wohnheim befinde.
    Eine Klingel ertönte. Jemand musste die Haustür geöffnet haben, denn das Nächste, was er hörte, war Gebrüll und das Getrampel schwerer Stiefel, die die Treppe hinaufstürmten. Halb wach und verkatert wie er war, reagierte er nur langsam. Um ihn herum brach Chaos aus. An ihm rannten Chinesen vorbei, Hosen, Zigarettenkartons und Turnschuhe in den Händen. Zwei junge ostafrikanische Frauen, von denen eine in einer Schlinge ein Baby bei sich trug, rannten auf den Treppenabsatz, dann machten sie kehrt und flüchteten wieder nach drinnen. Guy beschloss, in sein Zimmer zurückzukehren. Was immer auch geschah, es hatte nichts mit ihm zu tun. Einen Moment später wurde er von einem Mann in einer dunkelblauen belgischen Polizeiuniform in den Schwitzkasten genommen.
    »All right«, erinnert er sich, auf Englisch gerufen zu haben. »Du lieber Gott. Immer mit der Ruhe.«
    Der Polizist rang ihn zu Boden und kniete sich auf seinen Nacken. »Engländer«, röchelte Guy. »Ich bin ein Scheiß-Engländer.« Inzwischen hatte er erkannt, was geschah. Er befand sich mitten in einer Immigrantenrazzia.
    Mit der Operation Atomium brachte er das Ganze erst in Verbindung, als er bereits in dem Polizeiwagen saß. Er war zusammen mit den ostafrikanischen Frauen, mehreren Chinesen, die immer noch in ihrer Unterwäsche waren, und einem Gendarmen mit rasiertem Schädel

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