Greife nie in ein fallendes Messer
Zukunft ganz plötzlich in den Himmel schießen und genauso unvermutet wieder abstürzen. Aber das Ausmaß und die Dauer der Hausse und besonders die unerbittliche Konsequenz, mit der die privaten Käufer und deren Ratgeber jede fundamentale Argumentation, jede Warnung vor Übertreibung als obsolet oder gar lachhaft abtaten, das hatte alle erfahrenen Börsianer irritiert und vor unlösbare Rätsel gestellt.
Die leiseste Warnung in der Telebörse vor steigenden Verlusten oder sinkenden Gewinnmargen, und schon flatterten die Protest-Faxe auf meinen Schreibtisch, mochten sich die Internetexperten in ihren Chatrooms oder Boards fast ausschütten vor Lachen über diese alten Börsen-Fuzzis, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren |237| und alles hinunterredeten, was sie nicht verstanden und deshalb auch nicht in ihren Depots hatten. Richtig. Wer die EM.TV-Aktie zu ihrem Börsenstart gekauft und auf ihrem höchsten Kurs verkauft hätte, hätte einen Gewinn von 28 000 Prozent eingestrichen. »Hätte« und »Wäre« sind bekanntlich die reichsten Leute an der Börse. Doch leider bin ich ihnen in der Wirklichkeit noch nie begegnet.
Dabei waren sich die konservativen mit den aggressiven Anlegern und Experten in einem durchaus einig: Nichts würde künftig in unserer Welt funktionieren können ohne die Informationstechnologie, ohne die Telekommunikation. Unser Leben würde in den kommenden Jahrzehnten geprägt sein vom Internet, um nur ein Beispiel zu nennen.
Nichts würde so bleiben wie bisher. Das galt für den Verkäufer von Waren wie für den Dienstleister. Die Kunden würden online die preiswertesten Angebote suchen, ihre Bestellungen aufgeben und online bezahlen. Die Produzenten selber würden über elektronische Plattformen ihre Vorprodukte ordern und kostensenkende Vergleichsmöglichkeiten haben. Sie würden auch direkt mit dem Endverbraucher über das Internet in Verkaufsgespräche eintreten. Das schlösse den Einzelhändler aus, senkte die Kosten und machte alles noch viel billiger.
In diesen Trends liegt, nebenbei gesagt, auch die Ursache der zunehmenden Fusionen und Firmenübernahmen weltweit. Dem allgemeinen Preisdruck, der von dem Einsatz der neuen Technologie ausgeht, kann man als Unternehmen nur begegnen, indem man für eine möglichst große Zahl von Kunden sorgt. Die economies of scale , also die Erkenntnis, dass mit steigender Stückzahl die fixen Kosten pro Produktionseinheit sinken, sind in der Betriebswirtschaftslehre ein alter Hut. Indes wird wohl kein Unternehmen dieser Welt in der Lage sein, auf allen Gebieten seiner gesamten Produktpalette über einen genügend großen Absatzmarkt zu verfügen. Also beschränkt sich das einzelne Unternehmen tunlichst auf seine Stärke, auf sein Kerngeschäft, und versucht, durch Übernahmen oder Fusionen diesen Bereich auszudehnen, um den Effekt der Fixkostendegression besser nutzen zu können. Was nicht zum Kernbereich zählt, wird abgestoßen, das heißt verkauft oder stillgelegt.
|238| Ob dieser Zug in Richtung Größe tatsächlich immer an sein Ziel gelangt, ist mehr als fraglich. Häufig genug sind diese Megakonzerne in der Vergangenheit an ihrer eigenen Größe, an ihrer Unregierbarkeit zugrunde gegangen. Was hilft es der Unternehmensführung eines Weltkonzerns, wenn durch den Skaleneffekt zwar die Produktionskosten pro Einheit gesenkt werden könnten, aber durch länderspezifische Eigenarten in der internationalen Belegschaft Reibungsverluste die Produktionsabläufe stören? Ganz zu schweigen von den Finanzierungskosten einer Übernahme, die nicht selten die erhofften Kostenvorteile in der Produktion oder im Vertrieb auffressen. Die deutsche Automobilindustrie mit Produktionsstätten in den USA oder in Asien weiß ein Lied davon zu singen. Aus der Sicht der Aktionäre ein garstig Lied. Verständlich, dass bei größeren Firmenübernahmen die Börsianer eher geneigt sind, das Opfer zu kaufen, den Täter aber zu verkaufen. Aber das war schon so, bevor die Welt über das Internet enger zusammenrückte.
Die Warnungen der Börsianer vor der grenzenlosen Spekulation in Hightech-Werten richteten sich auch gar nicht gegen die Internetbranche generell. Kein noch so konservativer Anleger oder Berater war so vermessen, grundsätzlich auf Internetaktien in seinem Depot oder bei den Kundengesprächen zu verzichten. Die zwei entscheidenden Fragen lauteten: Welche Internetunternehmen haben eine erfolgversprechende Zukunft? Und ist deren Aktienkurs
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