Greife nie in ein fallendes Messer
aber schon Weltmarktführer wie der amerikanische Internetbuchhändler Amazon bei deutlich steigenden Umsätzen einen noch stärkeren Anstieg der Verluste melden mussten, drängte sich mir gleichwohl die Frage auf, welchen Sinn steigende Umsätze heute hatten, wenn sie lediglich zu noch höheren Verlusten führten? Der Einkauf über das Internet würde in wenigen Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen, daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber rechtfertigte allein das potenzielle Wachstum mit visionären Gewinnaussichten Kurssprünge um Hunderte von Prozentpunkten? Was würde mit den aufgeblähten Kursen geschehen, wenn die visionären Weltmarktführer mit ihrer Nischensoftware im Cyberspace verglühten und auf ihren Produkten sitzen blieben? Wenn der Wettbewerb |241| die Preise ruinierte? Wenn die Unternehmen der »Old Economy« mit ihrer Erfahrung im Stammgeschäft, mit ihren Beziehungen und vor allem mit ihren Finanzreserven ebenfalls ins Internetgeschäft einstiegen und gegen die Cyberkonkurrenz zurückschlugen? Wenn qualifizierte Mitarbeiter immer seltener und damit auch teurer wurden? Nicht jeder würde sich mit Aktien seines Arbeitgebers anstelle von Gehalt zufriedengeben, zumal diese Belegschaftsaktien in der Regel über Monate gebunkert werden mussten, bevor sie an der Börse zu Bargeld gemacht werden konnten. Was würde passieren, wenn das Geld aus dem Börsengang verbraucht war, bevor die Umsätze zu Gewinnen führten?
Das angesehene amerikanische Wirtschaftsmagazin Barron’s kam aufgrund eigener Befragungen von amerikanischen Internet-Firmen zu dem Ergebnis, dass in den nächsten Monaten von den untersuchten 207 Unternehmen in den USA rund 25 Prozent pleitegehen würden, weil die operativen Verluste die finanziellen Reserven dann aufgefressen haben würden. Ob diese kurze Zeitspanne richtig bemessen war, blieb fraglich, im Grunde aber wurde diese Untersuchung auch von Merrill-Lynch-Analysten bestätigt, die rund 75 Prozent der gegenwärtigen Internet-Firmen keine Zukunft gaben, weil diesen das Geld ausgehen würde. Pech für die Anleger, wenn sie Aktien gerade dieser Unternehmen in ihrem Depot hatten.
Hin und wieder aber beschlich mich die böse Ahnung, dass sich manche Anleger schon deshalb kaum um die fundamentalen Daten und die »Todeslisten« möglicher Pleitekandidaten aus dem Internetbereich kümmerten, weil sie ohnehin nur an einem schnellen Schnäppchen interessiert waren. Kaufen, die hohen Schwankungen der Kurse beobachten und sofort bei der nächsten Kurssteigerung den Gewinn realisieren – wer kümmert sich dabei noch um die langfristige Zukunft des Unternehmens? Spekulationsfrist und Einkommensteuer auf die Kursgewinne schienen in diesem Zusammenhang ebenfalls nur von untergeordneter Bedeutung zu sein.
Nahezu jeder meiner Gesprächspartner auf dem Parkett der Frankfurter Börse war schon Ende 1999 fest davon überzeugt, dass diese Spekulationsblase über kurz oder lang platzen werde. Selbst große |242| Investmenthäuser wie die Frankfurter DG-Bank orakelten über eine bevorstehende 40-prozentige Korrektur am Neuen Markt. Eine Warnung von erheblicher Bedeutung, war es doch gerade die DG-Bank mit den genossenschaftlich verankerten Fonds der Union Investment, die die Wellen am Neuen Markt mit erstaunlichem Erfolg abgeritten hatte. Jetzt blies auch sie zum Ausstieg. Je früher die Kurse vorübergehend konsolidierten, so las man es plötzlich nicht nur in den Analysen der DG-Banker, desto besser sei es für eine weitere Aufwärtsbewegung an den Börsen. Eine bedenkenlose Fortsetzung der gegenwärtigen Euphorie könnte dagegen die Notenbanken unter Führung der Amerikaner veranlassen, die Zinszügel stärker als vielleicht beabsichtigt anzuziehen.
Da war es wieder, dieses Stichwort »Zinsangst«. Immer häufiger in den letzten Monaten hatten nahezu alle konservativen Marktbeobachter davor gewarnt, die Zinsdrohungen des US-Notenbankchefs Alan Greenspan auf die leichte Schulter zu nehmen. »Die Mehrheit hat nie Recht«, tönten dagegen die alerten Jungbroker der privaten Vermögensverwaltungen, »die Hausse nährt die Hausse, Liquidität ist im Überfluss vorhanden. Und wenn die Mehrzahl der Analysten pessimistisch gestimmt ist, können die Kurse nur weiter steigen, weil diese Pessimisten doch längst keine Aktienbestände mehr haben, die sie noch auf den Markt werfen können.« Nicht ganz falsch. Der andauernde Zufluss der Milliarden aus dem Kreis der Privatanleger war in der Tat ein
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