Grenzen der Sehnsucht
kontaktfreudige Männer aus einem Umkreis von weit über hundert Kilometern um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal.
In dieser Nacht führt ein schnauzbärtiger Herr seinen Fifi spazieren und schielt vergeblich einem Jüngling mit blondierten Strähnen hinterher, der mindestens drei Jahrzehnte jünger ist. Ein etwas durchgeknallter Audi-Fahrer mit Trierer Kennzeichen dreht endlos suchend Kreise ums Karree und hat dabei die Hi-Fi-Anlage voll aufgedreht. Zwei Typen in Designerklamotten, die sich eine Zeit lang auf dem Parkplatz mit gespielter Gleichgültigkeit gegenüberstehen, verschwinden nacheinander hinter einer Mauer im Gebüsch, wo sie vermutlich gleich übereinander herfallen werden, ohne große Anlaufzeit, denn so viele Gelegenheiten, ihre Sexualität auszuleben, haben sie nicht. Und das ist ihnen auch bewusst.
Es ist schade, aber ganz so romantisch, wie es das Ambiente verheißt, geht es hier am Deutschen Eck dann doch nicht zu.
Auch wenn sich die Zeichen der Zeit längst geändert haben und sich niemand mehr wegen seiner Homosexualität zu verstecken braucht: Man muss doch ehrlicherweise einräumen, dass sich das schwule Leben in einem durchschnittlichen deutschen Städtchen wie Koblenz durch eine gewisse Übersichtlichkeit auszeichnet. Immerhin, mit Unterstützung der städtischen Aids-Hilfe gibt es dort nun schon seit den achtziger Jahren eine Selbsthilfegruppe für schwule Jugendliche, und vor kurzem haben sich ein paar Männer zusammen getan, um einmal die Woche gemeinsam Sport zu treiben. Schließlich wurde vor nicht allzu langer Zeit in der Altstadt eine helle, modern anmutende Bar an der Moselbrücke eröffnet, die sich keck Na und?! nennt und in der kurz vor Sperrstunde auch mal die Hits von Marianne Rosenberg das Publikum zum Rasen bringen, wie man das vom Klischee einer typischen schwulen Kleinstadtkneipe eben erwartet.
Na und?! – das ist ein Name, der in zwei Worten eine Menge verrät über das schwule Lebensgefühl in der Provinz. Selbstbewusstsein soll er ausstrahlen, aber der rechtfertigende Unterton ist nur schwer zu überhören, genau wie übrigens in einem Kneipennamen wie Why not?! Soll heißen: Hier treffen sich eben Schwule auf ein Bier – was ist schon dabei? Das sind doch auch nur Menschen wie du und ich!
Kneipen, die Na und?! oder Why not?! heißen, bedienen von Villingen-Schwenningen über Nürnberg bis nach Braunschweig die Nachfrage eines eingeschworenen Homo-Publikums, nämlich das der Freizeitschwulen, die hin und wieder das verständliche Bedürfnis umtreibt, einer Umgebung zu entfliehen, in der heterosexuelle Männer und Frauen nun mal in der erdrückenden Überzahl sind. Selbst im schwulen Urlaubs-Eldorado auf Gran Canaria finden sie sich in einer Pilsbar namens Na und? zum Karaoke-Singen und Schunkeln zusammen.
Na und?! – das ist eine Art Chiffre für das schwule Leben in der deutschen Provinz. Und das schwule Durchschnittspärchen von nebenan, das zu seinem Glück vielleicht keinen weiteren Kontakt zur Szene braucht, kann sich damit ganz gut arrangieren. Wie zum Beispiel jene zwei Männer im hessischen Dietzenbach, die sich die Räume des örtlichen Hühnerzuchtvereins anmieteten, um dort die erste Homo-Hochzeit in der achthundertjährigen Geschichte der Gemeinde zu feiern. Auch wenn sich seither das ganze Dorf das Maul über das historische Ereignis zerreißt: Über kurz oder lang wird das für keinen der Bewohner noch ein Thema sein. Jedenfalls keines, das mehr als ein Achselzucken hervorruft.
Und für die Singles gibt es obendrein das Internet, durch das sich hierzulande kein schwuler Mann mehr isoliert fühlen muss, denn schließlich ist Deutschland eines der am dichtesten besiedelten Länder Europas. Dank dem Internet, diesem Paralleluniversum anonymer Leidenschaften, finden Menschen mit den ausgefallensten Neigungen zusammen, die sich sonst nie kennen lernen würden.
Nein, eine Wüste ist die deutsche Provinz für Schwule keineswegs. Über das ganze Land spannt sich ein weit verzweigtes Netz aus Treffpunkten, Kneipen und Schwulenzentren. Wer darin einen Partner findet und nicht groß auf andere schwule Kontakte aus ist, ja, wer seiner schwulen Identität darüber hinaus nicht allzu viel Bedeutung beimisst, der kann sich beinahe überall heimisch fühlen, ohne seine Sexualität verleugnen zu müssen.
Doch von blühenden Landschaften mit einer öffentlichen schwulen Kultur kann in Städten wie Koblenz oder Osnabrück, Weimar oder Magdeburg längst nicht die Rede sein.
Weitere Kostenlose Bücher