Grenzen setzen – Grenzen achten
ist, worüber sie keine Macht hat. Die Griechen sind zum Heiligtum nach Delphi gewandert und haben dort im heiligen Bezirk, im Tempel, geschlafen. Vom Tempelschlaf erwarteten sie heilende Träume. Es ist also eine Wohltat für den Menschen, einzutauchen in den heiligen Raum, zu dem die Welt mit ihrem Lärm, ihren Maßstäben und Erwartungen keinen Zutritt hat. Für die Griechen vermag nur das Heilige zu heilen. Aber wenn das Heilige keine klaren Grenzen hat, steht es in Gefahr aufgelöst zu werden.
Ich kann in einen äußeren heiligen Bezirk eintreten, um mich vor dem Zugriff der Welt zu schützen. Es gibt aber auch in mir einen heiligen Raum, zu dem die Menschen mit ihren Erwartungen und Ansprüchen keinen Zutritt haben. Diesen inneren Raum muss ich schützen. Manchmal zeigt uns ein Traum, dass wir uns nicht genügend geschützt haben. Eine Frau erzählte, sie würde oft träumen, dass in ihrem Schlafzimmer fremde Menschen seien. Im Gespräch wurde klar, dass sie sich so sehr um andere Menschen kümmert, dass sie selbst den privaten Bereich des Schlafzimmers nicht mehr vor ihnen schützen konnte. Die anderen Menschen hatten Zugang zu allen Bereichen ihrer Seele. So war der Traum eine Mahnung, ihren innersten, ihren heiligen Bereich besser abzugrenzen.
Auch in alten Geschichten, in Legenden und Märchen finden wir diese Botschaft von der Heiligkeit der Grenze: Die Legendevom hl. Aegidius erzählt zum Beispiel, dass sich zu ihm die Tiere flüchteten, wenn der König auf die Jagd ging. Bei ihm waren sie geschützt. Um den Heiligen herum bestand ein Bannkreis, in den kein Jäger eindringen konnte. Die Jäger blieben wie angewurzelt stehen, und auch ihre Jagdhunde konnten diese Grenze nicht überschreiten. Der König spürte, dass es da nicht mit rechten Dingen zuging, und bat den Bischof um Hilfe. Als beide zu dem Bezirk des Heiligen vordrangen und die Jagdhunde wieder umkehren mussten, schoss ein Jäger einen Pfeil in das Gebüsch und verletzte den Heiligen. Der aber benötigte für diese Wunde keine irdische Arznei, wie sie ihm der König anbot. Er wollte durch diese Wunde sein Leben lang an Gott erinnert werden. Der Pfeil drang zwar in den heiligen Bezirk ein, in dem Aegidius wohnte, aber nicht in das innere Heiligtum des Einsiedlers. Das blieb unverletzt. Der emotionale Bereich in uns wird verletzt durch die Aggressionen anderer. Doch der innerste Raum in uns, in dem Gott selbst wohnt, ist gegen jede Verletzung geschützt.
Die Botschaft der Märchen
Im Märchen „Das Mädchen ohne Hände“ zieht die fromme Müllerstochter mit Kreide einen Kreis um sich. Zuvor wäscht sie sich. Sie schafft also in sich einen reinen Kreis, aus dem alles Dunkle und Böse verbannt ist. Der Teufel, dem der Vater seine Tochter versprochen hat, kann diesen Schutzkreis nicht überwinden.
Was dieses Märchen in Bildern erzählt, will auch heute bedacht werden. Dort, wo das Reine und Klare einen Kreis um den Menschen bildet, kann das Böse, können negative Emotionen nicht eindringen. Das Bild von der Heilkraft des Wassers ist in diesem Zusammenhang besonders eindrücklich. Als derTeufel dem Müller befiehlt, alles Wasser wegzuschaffen, damit die Tochter sich nicht mehr waschen und reinigen kann, da weint sie auf ihre Hände. Und die gereinigten Hände hindern den Teufel, ihr nahe zu kommen. Die tiefe Botschaft des Märchens auch für uns ist: Wenn wir den inneren Raum in uns schützen, der lauter und rein ist, dann hat das Negative keine Macht über uns. Aber viele Menschen können sich nicht abgrenzen von diesem Negativen, das um sie herum ist. Sie nehmen alle depressiven und aggressiven Stimmungen in ihrer Umgebung in sich auf. Sie können sich nicht wehren gegen die Emotionen, die auf sie einstürmen. Diesen Menschen will das Märchen sagen: Zieh einen deutlich markierten Kreis um dich, um deinen innersten Schutzraum festzulegen, damit du geschützt bleibst vor dem Bösen.
Das Märchen von Jorinde und Joringel erzählt ebenfalls von einem solchen Schutzraum. Doch es ist der Raum einer Zauberin. Die alte Frau wohnt in einem Schloss. Wer sich diesem Schloss auf 100 Schritte naht, der muss stehen bleiben und kann sich nicht mehr von der Stelle bewegen, bis sie ihn losspricht. Und wenn eine Jungfrau diesen Kreis betritt, so wird sie von der Zauberin in einen Vogel verwandelt. So geschieht es auch mit Jorinde, der Braut von Joringel. Beide kommen dem Schloss zu nahe. Jorinde wird in eine Nachtigall verwandelt. Joringel kann sich nicht
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