Grenzen setzen – Grenzen achten
mehr regen. Die Zauberin befreit den jungen Mann durch eine Zauberformel. Aber er muss ohne seine Braut von dannen ziehen und hütet die Schafe eines Bauern. In dieser Zeit zeigt ihm ein Traum, wie er Jorinde befreien und den Bann der Zauberin lösen kann. Er soll eine blutrote Blume suchen, in deren Mitte eine große Perle ist. Er findet sie und kann damit in den Zauberkreis eindringen. Joringel erlöst seine Braut und all die anderen Jungfrauen, die in Vögel verwandelt waren. Die Zauberin wird durch diese Blume entmachtet.
Das Märchen zeigt: Es gibt offensichtlich Grenzen, die man nicht überschreiten darf, ohne Schaden zu nehmen. Joringel muss erst eine blutrote Blume mit einer Perle suchen. Das bedeutet: Er muss erst durch Leid hindurch gegangen sein. Nur dann wird er einer reifen Liebe fähig, in der er eins wird mit seiner Braut. Solange die beiden verliebt sind, vernachlässigen sie ihre Grenzen. Wer in der Sehnsucht nach Verschmelzung lebt, der – so sagt das Märchen – gerät in den Herrschaftsbereich der Zauberin. Die Zauberin steht für verdrängte Aspekte des Weiblichen. Das Nichtbeachten der eigenen Grenzen führt zu einer symbiotischen Beziehung. In ihr hat der Mann keinen wirklichen Zugang mehr zur Frau. Er versteinert. Und die Frau fliegt als Nachtigall weg. Die Tiefenpsychologin Verena Kast hat dieses Märchen auf subtile Weise erschlossen: Sie meint, Joringel habe seine Frau zu einer Nachtigall erhöht. Vom Gesang der Nachtigall sagt man, „er sei so klagend, so traurig, so voll Sehnsucht, gleichzeitig aber auch verführerisch aufreizend – aber sie bleibt unerreichbar“. In der Symbiose wird die Frau übermenschlich, aber zugleich auch „nichtmenschlich, nicht mehr erreichbar“.
Durch einen Zauberspruch wird Joringel wieder frei. Die Zauberin hat offensichtlich an ihm nicht viel Interesse. Er muss seine eigenen Entwicklungsschritte vollziehen, um zu einer reifen Beziehung zu seiner Braut fähig zu werden. Der erste Schritt ist, dass er die Schafe hütet. „Hüten heißt, etwas zusammenhalten; eigentlich hüten die Märchenhelden sich selber, sie sammeln ihre vitalen Kräfte.“ Dann kommt ihm ein Traum zu Hilfe, der ihm den Weg zu seiner Frau zeigt. Die blutrote Blume mit der weißen Perle sieht Verena Kast als Symbol für die „Verbundenheit von körperlicher und mystischer Liebe“. Die Perle ist zugleich ein Bild der Zentrierung. Joringel hat sein Selbst entdeckt. Und er ist nun fähig zu einer Liebe, die die konkrete Frau mit ihrem Leib ernst nimmt, und in der Liebe zu ihr zugleich etwas von Transzendenz wahrnimmt. Es ist keine Liebe mehr,die festhält, sondern die in der Begegnung mit der Frau etwas anderes berührt, das dem eigenen Zugriff entzogen ist. Die Erfahrung von Transzendenz in der Liebe zur konkreten Frau, die in ihrer menschlichen Begrenztheit gesehen wird, befreit Joringel von seinen symbiotischen Bedürfnissen. Denn jetzt erfährt er nicht mehr die Symbiose mit seiner Frau, sondern letztlich die Symbiose in der Transzendenz. Und die schadet ihm offensichtlich nicht, sondern ermöglicht erst eine reife Liebe zur konkreten Frau.
Die Geschichte von Dornröschen
Ein ähnliches Motiv der Grenze taucht im Märchen von Dornröschen auf. Dornröschen wird von einer weisen Frau verflucht, sie solle sich mit 15 Jahren an einer Spindel stechen und daran sterben. Eine andere Frau kann diesen Fluch nur abmildern, indem sie den Tod in einen hundertjährigen Schlaf verwandelt. Trotz aller Vorsorge der Eltern, alle Spindeln wegzuschaffen, ereilt das Mädchen ihr Schicksal. Nicht nur sie schläft ein, sondern das ganze Schloss, die Eltern, die Angestellten, ja sogar die Tiere. Um das Schloss wächst eine hohe Dornenhecke. Immer wieder versuchen Prinzen, diese Hecke zu überschreiten, um Dornröschen zu befreien, von der man erzählte, sie sei die schönste Frau, die man sich denken könne. Doch die Freier gehen in der Hecke jämmerlich zugrunde. Erst als nach hundert Jahren ein junger Mann ohne Furcht die Grenze überschreiten möchte, gelingt es ihm. Die Dornen verwandeln sich in schöne Blumen, die ihn eintreten lassen.
Auch hier geht es um eine Grenze. Das Mädchen ist mit 15 Jahren seiner Sexualität begegnet. Sie hat sich daran verletzt. Sie ist noch nicht fähig, mit ihr umzugehen. Das führt dazu, dass sie eine Dornenhecke um sich braucht. Sie möchte auf der einenSeite die Beziehung zum Mann. Auf der anderen Seite wehrt sie sich dagegen. Sie hat Angst, nochmals gestochen
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