Grenzen setzen – Grenzen achten
zu werden. Daher sticht sie lieber die, die um sie werben. Manche Mädchen schaffen um sich so eine Dornenhecke, die Männer gerade anzieht. Doch sobald ihnen ein Mann zu nahe kommt, ziehen sie sich hinter eine undurchdringliche Mauer zurück.
Die Dornenhecke symbolisiert auch eine zeitliche Grenze. Das Mädchen ist mit 15 Jahren noch nicht reif, mit der Spindel richtig umzugehen. Sie muss erst 100 Jahre schlafen, bevor sie zur Liebe reif ist. Hundert ist ein Bild der Ganzheit. Dornröschen muss erst ganz sie selbst werden, bevor ein Freier zu ihr vordringen kann. Die Grenze der Dornenhecke gewährt ihr den Schutzraum des Reifens. Nach 100 Jahren werden die Dornen in Blumen verwandelt. Jetzt laden sie den Freier ein, zu Dornröschen vorzudringen.
In unserem Leben erfahren wir immer wieder: Es gibt auch zeitliche Grenzen, die wir beachten müssen. Wir möchten etwas erzwingen, aber es geht nicht. Wir müssen warten, bis es an der Zeit ist. Das gilt für die Liebe zwischen Mann und Frau. Es gilt aber auch für wichtige Schritte in unserem Leben. Wir müssen manchmal warten, bis die Zeit für eine Entscheidung reif ist. In dieser Lage gilt es, die zeitliche Grenze zu wahren. Sonst bleiben wir – im Bild des Märchens gesprochen – in den Dornen hängen und verletzen uns selbst mit unseren Grübeleien oder mit unseren gewaltsamen Versuchen, eine Entscheidung zu erzwingen.
4. Wir leben in festgesetzten Grenzen
Von Hybris und Demut
Ein Wesen der Grenze
Das Buch Hiob erzählt eine Menschheitsgeschichte, die die Menschen aller Zeiten bewegt hat. Hiob hat in seinem Leid erfahren müssen, wie weh es tun kann, dass Gott dem Menschen feste Grenzen setzt. So klagt er Gott gegenüber: „Wenn seine Tage fest bestimmt sind und die Zahl seiner Monde bei dir, wenn du gesetzt hast seine Grenzen, so dass er sie nicht überschreitet, schau weg von ihm! Lass ab, damit er seines Tags sich freue wie ein Tagelöhner.“ (Hiob 14,5f) Hiob erlebt die Begrenztheit seines Lebens. Er hatte großen Besitz angehäuft und eine gesunde Familie. Jetzt ist ihm alles genommen worden. Er glaubt, dass Gott jedem Menschen seine Grenzen gesetzt hat, die Grenze, wie lange sein Leben währt, die Grenze, wie viel Kraft in ihm ist, und was er damit erreichen kann.
Die Philosophie sagt uns, dass der Mensch ein Wesen der Grenze ist. „Er ist eingewiesen in bestimmte, d. h. auch begrenzte geschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche Situationen, die den Rahmen für seine Existenz bilden.“ So hat es Heinrich Fries einmal formuliert. Der Horizont, unter dem wir leben, ist begrenzt, unsere geschichtliche Existenz ebenso. Wir haben nur diese Eltern erlebt, nur diesen Ort und dieses Land, in dem wir aufgewachsen sind. Auch unsere Fähigkeiten sind nicht unbegrenzt. Wir sehnen uns zwar nach dem Unendlichen. Aber wir erfahren, dass wir nicht alles können, was wir wollen. Unsere Wünsche und Sehnsüchte gehen über die engen Grenzenhinaus, in die uns Gott gestellt hat. Und was wir erreichen, ist immer nur Stückwerk. Wir können unsere Grenzen nicht ausradieren. Wir möchten möglichst lange leben. Aber, so Fries, „diesem Leben werden Grenzen gesetzt durch Unglück, Naturkatastrophen, durch Bedrohung von Seiten der Menschen, durch Leiden und Krankheit des Leibes und der Seele“. Eine solche Beschreibung ist freilich nicht nur negativ: Wer wir sind, das erfahren wir an unseren Grenzen ebenfalls. Grenzerfahrungen, die uns an die Grenze unserer Belastbarkeit führen, können uns zwar bedrohen. Aber zugleich sind sie eine Chance für persönliches Wachstum. Sie laden uns ein, neue Lebensmöglichkeiten zu entwickeln. Die Existenzphilosophie hat solche Grenzerfahrungen beschrieben als Herausforderung, sich der eigenen Existenz gegenüber neu zu verhalten. Grenzerfahrungen zwingen mich, über mich und meine Möglichkeiten hinaus zu fragen. Letztlich verweisen sie mich auf Gott.
Für Hiob ist es Gott selbst, der unserem Leben Grenzen gesetzt hat. Seine Geschichte lehrt: Es ist Demut, Ja zu sagen zu den Grenzen, die Gott mir gesetzt hat. In allem, was ich tue, erfahre ich diese Grenze. Wenn ich schreibe, gelingt es mir nicht immer so, wie ich mir das in meiner Phantasie ausgedacht habe. Wenn ich in der Verwaltung etwas organisiere, bleibt immer noch ein Rest ungeklärt. In meinen Illusionen bin ich grenzenlos. Doch sobald ich meine Ideen verwirklichen möchte, stoße ich an Grenzen. Ich kann gegen diese Grenzen rebellieren. Doch ich stoße mir nur den Kopf
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