Grenzen setzen – Grenzen achten
in Frieden leben können.
Es ist eine Situation, die wir alle kennen. Abraham und Lot sind miteinander verwandt. Aber trotzdem gibt es Interessenkonflikte. Weil für die Herden von beiden nicht genügend Weidefläche daist, kommt es zum Streit. Die Geschichte spielt sich auch heute noch ab: Da gibt es Brüder, die miteinander ein Geschäft führen. Doch für beide ist es zu klein. Statt sich ständig zu streiten, trennen sie sich und einigen sich, wie sie das bisher Gemeinsame verteilen. Wenn sie in angemessenem und geklärtem Abstand zueinander leben und arbeiten, können sie in Frieden miteinander sein. Wenn sie zu eng beisammen sind, gibt es nur Streit.
In jeder Familie kann sich ähnliches ereignen. Das Gesagte gilt nicht nur für das Verhältnis unter Geschwistern, sondern auch für die Beziehung zu den Eltern. Auf unserem Lebensweg brauchen wir zuerst die Nähe der Eltern und der Familie. Doch irgendwann wird es zu eng. Dann ist es besser, sich gütlich zu trennen. Ich muss mir auf meinem Weg ins Leben meinen eigenen Bereich erobern und in das Land ziehen, das Gott mir zugedacht hat. Das Verhältnis von Nähe und Distanz muss dann neu geregelt werden, damit wir auf Dauer gut auskommen.
Entfaltungsräume
Auch aus dem Umfeld meines eigenen Ordens kenne ich solche Geschichten: Unter den Missionaren, die seit 1888 aus St. Ottilien nach Ostafrika auszogen, waren richtige Haudegen – Männer, die geprägt waren von großer Abenteuerlust und ungeheurem Tatendrang. Doch sie hatten Probleme miteinander. Wenn solche Haudegen gemeinsam ein Werk vollbringen sollten, gab es nach kurzer Zeit regelmäßig Streit. So zog der eine nach Osten, der andere nach Norden. Auf diese Weise verbreiterten sie das Missionsgebiet – und hatten dort, wo sie jeweils wirkten, auch großen Erfolg. Es war auch bei ihnen wie in der Geschichte von Abraham und Lot: Weil sie die Gebiete aufteilten, konnte jeder in seinem Gebiet die eigenen Ideen verwirklichen. So entstand ein positiver Wetteifer in ihrem Tun. Wenn sie imgleichen Gebiet geblieben wären, hätten sie sich bekämpft und blockiert. Ihr starker Unabhängigkeitsdrang und das Aufteilen der Gebiete wurde zum Segen für alle.
Wichtig ist die Balance zwischen Nähe und Distanz. Die Begründung, die Abraham für die Trennung von seinem Neffen Lot angibt, ist interessant: „Wir sind doch Brüder.“ Gerade weil sie eine so enge Beziehung haben, müssen sie sich voneinander abgrenzen und trennen, damit jeder innerhalb seiner Grenzen gut leben kann. Zuviel Nähe schafft sogar zwischen Brüdern Streit. Auch wenn sie sich noch so gut verstehen, wird es zu Konflikten kommen, wenn sie näher zusammen wohnen, als ihnen gut tut. In der biblischen Geschichte wird damit argumentiert, dass das Land für beide Herden nicht groß genug war. Das ist ein Bild dafür, dass jeder Mensch seinen Entfaltungsraum braucht. Er braucht seine Freiheit, um das leben zu können, was ihm wichtig ist. Wenn er dabei dem anderen ständig in die Quere kommt, gibt es Konflikte, auch wenn man sich persönlich noch so gut versteht. In Familien ist das nicht anders als in anderen Gemeinschaften, in denen die Menschen zu eng aufeinander sitzen. Die Konsequenz, ob im privaten oder beruflichen Umfeld: Sie kontrollieren sich gegenseitig und beschneiden einander in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Damit die Mitglieder einer Gemeinschaft gut miteinander auskommen, braucht es immer eine klare Grenzziehung. Die Arbeitsbereiche sollten klar voneinander getrennt sein, damit jeder seine Fähigkeiten in seinem Bereich entfalten kann. Zugleich braucht es aber ein gutes Miteinander in der Arbeit, die Bereitschaft, sich etwa durch Terminabsprachen Grenzen zu setzen und die eigenen Grenzen und die der anderen Arbeitsbereiche zu wahren. Die ausgewogene Balance von Nähe und Distanz im Miteinander geht bis in ganz praktische räumliche Fragen. Es braucht die Rückzugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände. Wenn ein Haus zu hellhörig ist, wenn die Zimmer nicht gutisoliert sind und man das Husten des Nachbarn ständig hört, wird solche Nähe schnell Aggressivität erzeugen. Nur wenn man sich zurückziehen kann, kommt man auch gerne zusammen. Es braucht also immer beides: Nähe und Distanz, Sich-reiben und Sich-zurückziehen, Verbindlichkeit und Freiraum, Einsamkeit und Gemeinschaft.
Jenseits des Paradieses
In Gesprächen mit Menschen, die unter dem Problem der richtigen Grenzziehung leiden, hört man manchmal: „Wir verstehen uns doch
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