Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
Eins
In diesen Jahr begann es schon an
Halloween zu schneien. Große glitzernde Flocken taumelten von einem düsteren
Himmel herab und legten sich wie exquisite weiße Spitze auf die rotgold
belaubten Zweige der Ahornbäume, auf Zaunpfähle und Straßenlaternen, auf Dächer
und Fensterbretter.
Aidan Tremayne erwachte bei
Sonnenuntergang, wie jeden Tag in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Ein
sonderbares Hochgefühl ergriff ihn, als er sein geheimes Versteck im Wald
verließ, und ein wehmütiges Lächeln spielte um seine Lippen, als er die
schneebedeckte Landschaft sah. Er konnte die Aufregung der Stadtkinder spüren,
sie war wie leises Lachen, das auf dem Wind mitritt.
Ein richtiger Halloweenabend, dachte
er. Wie passend.
Er schüttelte die bittersüße Trauer
ab, die ihn beherrschte, seit er die Augen geöffnet hatte, und ging auf das
prächtige Haus aus Natursteinquadern zu, das verborgen in der Stille seiner
Umgebung lag. Vereinzelte Birken wuchsen zwischen den anderen Bäumen,
grau-weiße Silhouetten gegen den jungfräulichen Schnee, und von der entfernten
Seite des kleinen Teichs beobachtete ihn ein junges Reh mißtrauisch.
Aidan blieb stehen, um seine Augen
an die zunehmende Dunkelheit zu gewöhnen, und all seine Instinkte erwachten zum
Leben. Das Rehkitz erwiderte seinen Blick gebannt wie von Scheinwerfern auf
einer dunklen, vergessenen Straße. Er hätte das Tier nur zu sich zu befehlen
brauchen, und es wäre gekommen.
Er war hungrig, drei Tage waren seit
seiner letzten Nahrungsaufnahme vergangen, aber er fand keinen Geschmack am
Blut unschuldiger Wesen, ob sie nun zur menschlichen oder tierischen Gattung
gehörten. Im übrigen stellte die Lebenskraft minderwertiger Kreaturen nur
unzureichende Nahrung für ihn dar. Geh, befahl er dem Reh in jener stummen
Sprache, die er über die Jahrhunderte hinweg bis zur Perfektion geübt hatte.
Das Kitz lauschte mit der für wilde
Tiere so typischen Aufmerksamkeit, die weißen Ohren richteten sich auf, als
dicke Schneeflocken langsam die Spuren des Bösen mit einem makellosen weißen
Mantel zudeckten. Dann drehte sich das kleine Tier um und trottete in den Wald
zurück.
Als Aidan zum Haus weiterging,
gestattete er sich ein weiteres schwaches Lächeln, denn schließlich war heute
Halloween, ein Tag, der für einen Vampir eine feierlichere Bedeutung hätte
haben müssen. Hinter ihm, am Ende der langen kiesbestreuten Einfahrt, lag die
Schnellstraße, das erste Anzeichen naher Zivilisation. Die kleine Stadt Bright
River, die zum Staat Connecticut gehörte, erstreckte sich viereinhalb Meilen
weiter nördlich. Sie war eine jener Kleinstädte, in denen sonntags die Kirchenglocken
läuteten und jedes lokalpolitische Ereignis hitzige Diskussionen auslöste.
Aidan lächelte noch immer, als er
die Stufen zum hinteren Teil des Hauses hinaufstieg und sich dort den Schnee
von den Stiefeln stampfte, wie es jeder normale Sterbliche getan hätte. Aber er
machte kein Licht, als er in die Küche ging. Sein Sehvermögen war am
ausgeprägtesten bei Nacht, und seinem Gehör entging nicht das leiseste
Geräusch.
Er blieb einen winzigen Moment auf
der Schwelle stehen und konzentrierte sich. Sekunden später wußte er, daß er
tatsächlich allein war in dem großen, düsteren Haus. Die Erkenntnis
erleichterte ihn, denn er besaß mächtige Feinde, aber sie stimmte ihn auch
traurig, weil sie ihm auf quälende Weise zu Bewußtsein brachte, daß er für alle
Ewigkeit zur Einsamkeit verdammt war. Das war das Schlimmste daran, ein
Ungeheuer zu sein wie er — diese grausame Einsamkeit, dieses endlose Wandern
über die Erde wie ein zweiter Kain.
Mit Ausnahme des kurzen Augenblicks,
wenn seine Opfer entsetzt begriffen, daß sie ihren letzten Herzschlag taten,
hatte Aidan keinen Umgang mit Menschen, weil er nur Kontakt zu anderen Vampiren
hielt. Doch die Gesellschaft seiner Gefährten verschaffte ihm keine Freude —
mit Ausnahme von Maeve vielleicht, seiner Zwillingsschwester, die er
vorbehaltlos liebte —, weil sie Ungeheuer waren wie er selbst. In der Regel waren
Vampire höchst unsoziale Wesen, die weder ein Gewissen kannten noch Verlangen
nach der Gesellschaft anderer.
Aidan seufzte, während er sich
lautlos durch das Haus bewegte und mit der Hand über sein dunkles Haar strich.
Die Sehnsucht, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch zu leben und zu lieben, hatte
ihn nie verlassen, obwohl ältere und weisere Vampire ihm einst versprochen
hatten, daß es einmal anders werden würde. Doch ein
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