Grenzfall (German Edition)
von Kamal! Zu viele Jet-Li-Filme gesehen.
3. Juli 2012, Kollwitz-Fichtenberg
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Ein kurzes Hupen, dann sind sie fort, ihre Retter. Raue Männer, aber von einer einfachen Herzlichkeit, wie man sie heutzutage kaum noch kennt. Ein Schmerz fährt ihr in den unteren Rücken. Der Lendenwirbel. Gesine bleibt an der Ampel stehen und legt die Hände auf den pulsierenden Schmerz. Wie viele Kilometer hat sie in den letzten Tagen zurückgelegt? Es kommt ihr vor, als wäre sie ewig unterwegs gewesen.
Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Es geht schon wieder. Die Kreuzung am Bahnhof. Ganz hinten der Kirchturm. Ihr Zuhause.
Auf der Küstenstraße am Mittelmeer, kurz nachdem sie umgestiegen war, gab es diesen einen Moment. Der Impuls, das Auto anzuhalten und zurückzulaufen. Alles hinter sich zu lassen. Den Neuanfang mit Arno zu wagen. Lächerlich! Arno ist ein schwacher Mann. Hätte sie das bloß gewusst, all die Jahre. Vielleicht hätte es ein anderes Leben mit einem anderen Partner gegeben. Hätte. Hätte.
Gegen den Schmerz anlaufen. Gesine geht mit schnellen Schritten am Baltic Center vorbei. Wahlplakate. »Für Kollwitz – Jochen Wedemeier.« Trotz der Erschöpfung flackert die Wut auf ihn in ihrem Inneren, heftiger denn je. Sie muss schlafen. Danach, mit frischem Geist, wird sie überlegen, wie mit dem Mann zu verfahren ist. Wegen der Entführung kann sie ihn nicht belangen, ohne Arno und die Roma zu belasten. Die Brandstiftung dagegen ist nachweisbar. Jemand muss ihn aufhalten. Und zwar vor den Wahlen am nächsten Sonntag.
Auf dem Parkplatz neben dem Pfarrhaus steht der Reisebus von der Junghans. Eigentlich die letzte Person, die sie jetzt treffen möchte. Aber es ist gut, dass Nadina nicht alleine ist. Wie das junge Ding ihre Rettung bewerkstelligt hat, ist ihr ein Rätsel.
Die Haustür ist abgeschlossen. Sie klingelt. Ihre Schlüssel sind auch weg. Sie wird das Schloss auswechseln lassen. Sicher ist sicher. Es öffnet die Junghans. »Die Pastorin ist nicht –«
Gesine lächelt. »Habe ich mich so verändert in den letzten drei Tagen?«
»Entschuldigung!« Die Frau tritt zur Seite, nicht ohne sie neugierig zu mustern. Sie trägt den linken Arm in Gips.
»Was haben Sie denn gemacht?«
Sie sieht auf ihren Arm. »Ich habe nicht aufgepasst.«
Die Stele in der Diele kommt Gesine vor wie blanker Hohn. Ein Frühwerk von Arno Matthiesen. Sie wird es dem Kollwitzer Museum stiften.
»Wir haben gerade frischen Kaffee gemacht.« Die Junghans geht voraus in die Küche. Gesine bemerkt Nadinas gepackte Tasche neben der Tür zum Gästezimmer.
Das Mädchen selbst sitzt am Küchentisch. »Gesine!« Wenn sie sich freut, sie zu sehen, so lässt sie es sich nicht anmerken. Aber sie reicht ihr einen Becher mit heißem Kaffee.
Gesine sinkt auf einen Stuhl. Sie ist wirklich hundemüde. »Wie hast du das nur gemacht, Nadina?«
Sie zuckt mit den Schultern, gibt sich betont cool. »Connections.«
Gesine hat sich die Worte im Auto zurechtgelegt, trotzdem kommen sie ihr jetzt etwas hölzern und abgedroschen vor. »Nadina. Möchtest du nicht bleiben? Hier gibt es immer etwas zu tun. Im Haushalt. In der Kirche.« Sie wirft der Junghans einen Seitenblick zu. »Ich würde dich natürlich angemessen bezahlen. Alles ganz offiziell.«
Nadina starrt in ihre Kaffeetasse. Die langen Haare fallen ihr ins Gesicht. Ein paar Manieren wird sie ihr schon noch beibringen müssen. Keinen Knigge. Nur die Grundregeln menschlichen Miteinanders.
»Nein, danke. Ich möchte lieber gehen.«
»Hast du Heimweh?« Das ist natürlich nachvollziehbar, doch wenn sie zurückgeht, stehen ihre Chance auf eine menschenwürdige Zukunft schlecht. »Werden denn deine Brüder dich in Zukunft in Ruhe lassen?«
»Keine Ahnung.« Nadina sieht sie nicht an. »Ich will nach Berlin gehen und Architektur studieren.«
»Das geht aber nicht einfach so.« Die Naivität des Mädchens macht sie richtiggehend ärgerlich. »Da gibt es Wartelisten. Und es ist fraglich, ob dein Abschluss anerkannt wird.« Sie schlägt einen sanfteren Ton an. »Sieh mal, Kollwitz hat auch eine Universität. Wir können versuchen, dir hier einen Studienplatz zu besorgen. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich bin schon viele Jahre allein, doch jetzt hätte ich gern jemanden bei mir. Ich werde schließlich nicht jünger.«
»Im Moment sind Sie ja noch fit.« Die Junghans muss natürlich ihren Senf dazugeben. »Wenn Sie richtig ausgeschlafen haben, sind Sie wie
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