Grenzfall (German Edition)
Beste draus: In der Personalabteilung hatte er einen abwechslungsreichen Alltag und immer genügend Frischfleisch vor der Nase, das es mit jedem Fotomodell aufnehmen konnte. Er war keiner, der was anbrennen ließ im Leben. Mehr als die halbe Welt hatte er gesehen, für einen Bruchteil des Linienflugpreises. Und wenn man die richtigen Fragen stellte, fand man überall Leute, die einem Jäger gegen gutes Geld die richtigen Tipps gaben. Hajo hatte die großen Fünf nicht nur mit seiner Nikon erlegt.
Am Gate erschien jetzt das Bodenpersonal, ein Mann und eine Frau. Sie scherzten, dann fiel ihr Blick auf Hajo, die Frau erstarrte. Er hob lässig die Hand. Sie zupfte unwillkürlich ihr Halstuch zurecht. Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, auch sie hatte mit bebenden Lippen vor ihm gesessen, sein Urteil erwartend wie einen Richterspruch.
Die Sitzreihen füllten sich schnell, hauptsächlich Geschäftsleute. Hajo hatte bei der letzten Aktionärsversammlung erfahren, dass die Fluglinie ihre Kapazität auf der Strecke Frankfurt – Berlin im kommenden Jahr verdoppeln wollte. Alle waren scharf drauf, beim Goldrausch mitzumischen, die Treuhand verscherbelte ihre Betriebe im Minutentakt. Da konnte man das eine oder andere Schnäppchen machen. Hajo war das nur recht. Als Mitarbeiter hatte er schon lange ein Aktienpaket, das dieser Tage ohne sein Zutun an Wert zulegte, trotz der Krise. Und sechzehn Millionen reisewütige Ossis halfen kräftig dabei mit.
Hajo erhob sich, um wie immer als Erster an Bord zu gehen. Selbstverständlich würde er einen Platz am Notausgang mit ausreichend Beinfreiheit haben. Sein bestes Stück lag bereits sicher verpackt im Bauch des Silbervogels. Er spürte ein leichtes Kribbeln, der Reiz des Unbekannten verfehlte selten seine Wirkung. Wenn der Makler nicht zu viel versprochen hatte, erwartete ihn eine wildreiche Gegend, dünn besiedelt, kaum Kontrollen. Da mussten doch ein paar fette Abschüsse drin sein. Hajo leckte sich unwillkürlich die Lippen, nahm seine Bordkarte entgegen und zwinkerte der jungen Frau mit einem vielsagenden Blick auf ihren Kollegen zu. »Sie können es wohl kaum erwarten, was? Ein schönes Wochenende!«
27. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Der tiefergelegte Golf fuhr viel zu weit links und schaltete das Fernlicht nicht ab. Uwe Jahn ging sofort auf die Bremse, lenkte seinen Iltis so weit wie möglich nach rechts, blieb stehen und ließ den Wagen vorbei. Für ein paar Sekunden hörte er das tiefe Wummern der Musik wie den Herzschlag eines Riesen. Dann war es still.
Jeden Samstag das gleiche Spiel. In die Disco, die Sau rauslassen, und dann vollgetankt wieder auf die Straße. Denen kam man besser nicht in die Quere. Letzte Woche hatten sie in der Nähe von Königswusterhausen einen Neger in den See geschmissen. Und zu Hause in den Betten beteten die Eltern, dass mit dem nächsten Wrack nicht ihr Kind am Alleebaum klebte. Denn für sie blieben es Kinder. Kinder, die ihnen mit jedem Tag der neuen Zeitrechnung fremder wurden. Warum soffen sie, warum prügelten sie, warum fuhren sie sich tot? Sie hatten doch alles: Westgeld, Farbfernsehen auf allen Kanälen, Reisefreiheit.
Sein alter Freund Fritz, seit vielen Jahren bei der Mordkommission Neubrandenburg, hatte ihm vor kurzem beim Bier erzählt, dass die Zahl der Gewaltverbrechen in der ehemaligen DDR seit der Wende explosionsartig angestiegen war. Klar, und dann kamen wieder die Nörgler und behaupteten, das wäre eben vorher alles vertuscht worden. Davon hätte er was gemerkt, das war mal sicher.
Er wollte gerade wieder losfahren, als er im Augenwinkel eine Bewegung neben dem Straßengraben sah. Mit der Linken schaltete er das Fernlicht an, die Rechte langte reflexartig nach hinten und griff nach dem Gewehr auf dem Rücksitz. Leise öffnete er die Fahrertür. Er hatte die Quote für seine privaten Abschüsse noch lange nicht voll, hinten drin lag nur ein Hase.
Vorsichtig ging er vor dem Geländewagen in die Hocke, suchte nach Spuren. Da waren sie, direkt vor ihm auf dem Sandweg. Er hielt den Atem an. Seit Monaten vertrieb ihm eine große Rotte Schwarzwild die Rehe. So ein Keiler brachte beim Schlachter eine Menge Geld. Und das brauchte er, denn er wollte einen Hund kaufen. Einen Weimaraner. Die waren nicht billig. Nichts war mehr billig, und umsonst gab es nur den Tod. Zweitausend Mark West – kein Pappenstiel für einen ehemaligen Volkspolizisten aus den sogenannten neuen
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