Grenzfall (German Edition)
»Ist dies ein Politthriller?«, wurde ich vor der Veröffentlichung gefragt. Die Antwort fiel mir nicht leicht. Es ist kein Whodunnit, so viel ist sicher. Rein thematisch ist Grenzfall unbedingt ein Politthriller, doch Merle Kröger schreibt eine andere Choreographie und hat einen völlig anderen Sound, als man es von Thrillern gewöhnt ist. Es gibt in diesem Buch Noir-Elemente und knallharten Realismus, aber auch eine rastlose, kaleidoskopartig bunte Unruhe, die eher an ein Roadmovie erinnert. Roadmovies handeln »vom Unterwegssein ihrer Helden und der Schwierigkeit, einen Platz in der Welt zu finden. Unterschwellig geht es darum, das zu finden, was das Bezugssystem Gesellschaft verkörpert und im Inneren zusammenhält. Es wird ihr ein Spiegel vorgehalten.« (Wikipedia) Auch das passt auf dieses Buch: Es führt uns kreuz und quer durch Europa, zoomt dicht an vielfältige Wirklichkeiten heran und erschließt Widersprüche, deren Aktualität manchmal bitter schmeckt. Dabei verhält sich Merle Krögers epische, ungestüme, gefühlsbetonte Erzählweise zum Großteil der deutschen Krimikultur wie ein E-Gitarren-Solo zur Kammermusik. (Ich gestehe: Ich höre mehr Hendrix als Klassik.) Wo ein Thriller meine Angst anspricht, bezieht Grenzfall seine Mitfieber-Spannung aus Einfühlung und sozialem Konflikt: Mittäterschaft, Wut, das Sich-Einrichten in den Verhältnissen, Armut und Verzweiflung werden ebenso spür- und greifbar wie Zivilcourage, diverse Konzepte von Familie, Vertrauen, Widerstand und Kreativität. Plötzlich eröffnen sich Spielräume zwischen Wissen und Wegschauen. Als ob man eine Reise mitmacht, die den Blickwinkel ein bisschen verschiebt. Ich liebe es, wenn ein Roman so was mit mir macht.
Else Laudan
Merle Kröger , geboren 1967 in Plön, lebt seit 1985 in Berlin und arbeitet als Filmemacherin, Produzentin, Drehbuch- und Romanautorin. Sie realisierte zahlreiche Dokumentarfilme, die erfolgreich auf nationalen und internationalen Festivals sowie im Fernsehen (ZDF, ARTE) liefen, und ist an den dokumentarischen Kinofilmen The Halfmoon Files (2007), Der Tag des Spatzen (2010) und Revision (2012) beteiligt. Ihr Roman Cut! wurde ins Englische übersetzt und im indischen Verlag Katha veröffentlicht, Kyai! stand mehrmals auf der KrimiWelt -Bestenliste und war Buch des Monats auf arte.tv .
Merle Kröger
GRENZFALL
Ariadne Krimi 1210
Argument Verlag
www.boox.to
Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de
Merle Kröger im Argument Verlag:
Cut! (Ariadne Kriminalroman 1146)
Kyai! (Ariadne Kriminalroman 1166)
Grenzfall (Ariadne Kriminalroman 1210)
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2012
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann
Fotomotiv: © Jan the Manson, Fotolia.com
Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik
Satz: Iris Konopik
ISBN 9783867549356
Vierte Auflage 2013
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Für Philip
Erstes Buch
27. Juni 1992, Frankfurt am Main
Hessen, Deutschland
Hajo Walther, Hajo für Hans-Jürgen in diesem Fall, zog die Sonderseiten der FAZ zu Luft- und Raumfahrt aus dem vorderen Fach seines Pilotenkoffers. Auf Rechteck gefaltet, DIN A4. Schon fast zwei Wochen trug er die mit sich herum, er war und war nicht zum Lesen gekommen. Das kam eben davon, wenn man eine junge Frau hatte. Der musste man schon was bieten. Er faltete die Doppelseite auf und vertiefte sich in einen Artikel über Nutzen und Kosten der bemannten Raumfahrt. Alles wurde heute unter Gesichtspunkten der finanziellen Effizienz beurteilt, das kritisierte auch der NASA-Experte im Interview. Keiner fragte mehr nach langfristigen Perspektiven. Hajo war der Meinung, dass mit dem Kalten Krieg auch der Ehrgeiz verschwunden war, etwas zu erreichen.
Er saß wie immer direkt am Fenster des Abflugterminals, um einen guten Blick auf das Rollfeld zu haben. Draußen war es noch nicht ganz hell, eine Kabinencrew stieg gerade aus dem Bus, der Pilot vorneweg mit der attraktivsten Flugbegleiterin an seiner Seite, dahinter die anderen. Hajo versuchte die Uniformen zu erkennen, irgendwas Exotisches, vielleicht Singapur Airlines. Das strotzende Selbstbewusstsein des Kapitäns versetzte ihm einen Stich. Er hatte die Prüfung zum Piloten damals um fünf Prozent verfehlt. Stattdessen hatte man ihm eine Laufbahn im mittleren Management bei der Airline mit dem Kranich vorgeschlagen. Hajo machte das
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