Grenzfall (German Edition)
und jetzt waren nur noch ein paar Alte und Kinder da.
Marius schrieb in sein Notizbuch, um die Schatten zu vertreiben, die jedes Mal über die Wände huschten, wenn ein Auto vorüberfuhr. Er war nicht gern allein, sie waren lieber zusammen, so war das nun mal. Allein fühlte er sich unvollständig, das war das richtige Wort. Das Schreiben hatte er angefangen, als er für die staatliche Ölfirma als Lkw-Fahrer arbeitete. Er war oft tagelang unterwegs. Allein auf den Parkplätzen, nachts, schrieb er auf, was er tagsüber durch die Frontscheibe seines Lasters beobachtet hatte. Er war kein Poet, eher ein Chronist. Und weil Adriana gerade zur Welt gekommen war, schrieb er an seine Tochter. Später wurden seine Söhne geboren, und er war der stolzeste Mann des ganzen Viertels. Geschrieben hatte er weiter für Adriana.
Nach seiner Entlassung, als er in Turnu Severin herumsaß und wartete – Gott im Himmel weiß worauf –, merkte er, dass ihm das Beobachten und Aufschreiben zur Gewohnheit geworden war. Er schrieb über Hochzeiten und Begräbnisse, über Morde und Selbstmorde, und als er in die Reihen derer aufgenommen wurde, die Recht sprechen durften, wenn zwei Familien in Streit gerieten, schrieb er auch darüber. Mittlerweile hatte er ein ganzes Regal im Schrank mit identischen Notizbüchern gefüllt, für jedes Jahr eines. Vielleicht würde Adriana sie eines Tages mitnehmen, wenn sie heiratete, oder er würde sie auf den Müll werfen.
Die Petroleumlampe flackerte. Er sah hoch, vergeblich suchte sein Blick nach anderen erleuchteten Fenstern. Marius fühlte eine zunehmend schwere Müdigkeit, die ihm in den Knochen steckte. Er war von Deutschland dreißig Stunden durchgefahren, das machte ihm nichts aus. Doch nun saß er hier seit zwei Wochen fest, weil er die nötigen Papiere nicht bekam. Zurück musste er illegal über die grüne Grenze einreisen. Nur nicht das laufende Asylverfahren seiner Familie gefährden. Bis sie endlich ihren Stempel im Pass hatten. Die ganze Welt drehte sich um Papiere. Morgen würde er wieder auf die Präfektur gehen, höflich nachfragen und vielleicht mit etwas Glück den Schein in der Hand halten, der ihm erlaubte, das Dokument zu beantragen, um seine Mutter nach Hause zu bringen. Dann würde er warten, vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen. Zurück nach Deutschland fahren und warten, vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein Jahr.
Trotz der Müdigkeit überkam ihn plötzlich Lust, sein Haus weiterzubauen, Mörtel anzurühren, eine Wand hochzuziehen. Unter den Händen die Wärme der Ziegel zu spüren. Das Gebell der Hunde und das Geschrei von Ştefan und Claudiu im Hof zu hören. Zu wissen, dass sie eine Zukunft hatten. Hier gab es diese Zukunft nicht mehr. Und so würde auch er sich wieder auf den Weg machen.
27. Juni 1992, südlich von Szczecin
Lebus, Polen
»Du bist ein elender Träumer!« Ion hieb mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Deine Silvia hat doch längst einen anderen im Bett. Glaub mir, die lässt nichts anbrennen.« Dann fuhr er rechts ran, um sich bei einem Stand eine Flasche Wodka zu kaufen. Er fragte nicht mal, ob Nicu auch was trinken wollte.
Die ganze Zeit hackte Ion auf Silvia herum. Das ging schon seit Tagen so. Sein Bruder wollte nicht glauben, dass Silvia sich einen wie Nicu ausgesucht hatte. Kein Wunder. Nicu glaubte es ja selbst kaum. Er drehte sich um, der Rücksitz war schon voller leerer Flaschen. Er hatte aufgehört, die Tage und Nächte zu zählen. Zweimal war das Auto kaputtgegangen, sie mussten herumfragen und warten, bis sie einen fanden, der den alten Dacia reparierte. Stundenlang standen sie in langen Schlangen an Grenzen herum, zwischen Ländern, die er nur dem Namen nach kannte: Ukraine, Weißrussland. Im Moment fuhren sie durch Polen.
»Wir fahren hintenrum«, hatte Ion verkündet, als Bra ş ov gerade hinter ihnen lag. »Ich bin der Ältere, und ich bestimme, wo es langgeht. Wenn wir in Deutschland sind, kannst du dich wieder einschleimen und so tun, als ob du mich nicht kennst. Solange machst du, was ich sage.« Vielleicht hätte er da schon aussteigen sollen. Jetzt war es zu spät.
Ion hatte sich verändert. Im letzten Sommer war es Abenteuerlust gewesen, die ihn von seiner nörgelnden Frau und dem mickrigen Hof an der Autobahn nach Bucure ş ti fortgetrieben hatte. Nicus Fabrik machte dicht, wie so viele Staatsbetriebe. Silvia wollte dauernd neue Sachen für die Kinder kaufen. Also war Nicu mit Ion nach Deutschland
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