Grenzfall (German Edition)
wie Wasser kurz vor dem Kochen. »Solingen« und »Hoyerswerda« brodelte es um ihn herum, Städtenamen, die mittlerweile jeder kannte.
Als der Festsaal im Sportclub zu eng wurde, zogen sie nach draußen auf die Wiese. Jemand hatte ein Schaf mitgebracht, und sie grillten es über dem offenen Feuer. Nach der Beisetzung lud Pastorin Gesine sie in die Kirche ein. Den ganzen langen Trauerzug, der bis vor die Tore des Friedhofs reichte. Sie hatte den Übersetzer mitgebracht, der sonst immer auf dem Amt war, damit er ihre Rede ins Rumänische übersetzte. Einen Moment lang glaubte Marius in seinem Schmerz, der Anlass des Ganzen wäre irgendwie ein Missverständnis und er könnte sich hier eines Tages zu Hause fühlen.
Nein. Seine Mutter war tot. Gestorben, weil ihr ein Stein die Luft zum Atmen geraubt hatte. Ein Stein, geworfen von der Hand eines Nachbarn.
Heute, drei Wochen später, waren die Feuerstellen auf der Wiese kalt, die Familien zurückgekehrt in ihre Heime, woanders in Deutschland. Geblieben waren die Blicke. Sie schossen von Fenster zu Fenster durch die Innenhöfe, wenn er mit seinen Kindern auf den Fußballplatz ging, wie ein Echo, das nie verstummte. Leise gemurmelte Worte, die er nicht verstand, wenn er sich abends beim Imbiss ein Bier holte. Hinter seinem Rücken ausgespuckt. Dann war es losgegangen.
Ein Sonnenstrahl fiel durch die zerbrochene Scheibe und warf einen Lichtreflex auf die Haare seiner Tochter. Es war ihr Geburtstag, ein wichtiger Tag, sie wurde zur Frau. Sie hatten feiern wollen drüben im Sportclub, stattdessen musste sie übersetzen. Sie sah ihn abwartend an, und Marius nickte.
»Pastorin Gesine sagt, das Grab ist schon wieder verwüstet worden. Sie haben die Ziegelsteine genommen, die du rund um das Grab gelegt hast, und damit die Kirchenfenster eingeworfen.«
Die Pastorin zeigte nach oben auf das kaputte Fenster. Ihre andere Hand ruhte auf dem Grabkreuz seiner Mutter. Arno hatte es für ihn gemacht, es war aus Lärchenholz geschnitzt. »Sie hat das Kreuz hinten auf dem Müll gefunden, bei den verwelkten Blumen«, sagte Adriana leise und schlug die Augen nieder.
Marius biss die Zähne zusammen. Er spürte, wie sich seine rechte Hand zur Faust ballte. Bevor er sich wieder im Griff hatte, bemerkte es die Pastorin. Sie fing wieder an zu reden und unterstrich ihre Worte mit hilflosen Gesten. »Sie sagt, das waren Einzelne. Arno hat schon Anzeige bei der Polizei erstattet. Sie will nicht, dass wir glauben, dass alle hier –«
Marius brachte seine Tochter mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. Hier herrschte ein Krieg, der nicht seiner war. Er wollte nur weg, irgendwohin, wo er eine Arbeit finden und die Familie ernähren konnte. Stattdessen wartete er jetzt schon über ein Jahr auf die nötigen Papiere. Er zeigte auf das Kreuz. »Kann sie es an einem sicheren Ort für mich aufbewahren?«
Adriana übersetzte, die Frau deutete auf den Altarraum und sagte etwas. »Hier drin wird niemand wagen, es anzurühren.«
Marius nickte. »Ich fahre nach Rumänien, um die Papiere für die Überführung zu besorgen. Ich bringe meine Mutter nach Hause.«
Er sah, wie Adriana zusammenfuhr. Sie wusste, was das hieß. Er würde unterwegs sein. Und sie musste für die beiden Kleinen sorgen, Vater und Mutter zugleich sein. Mit vierzehn Jahren. Sie würde es schaffen.
»Keine Sorge«, sagte er, als sie langsam durch das offene Friedhofstor hinaus in den Fichtenwald gingen. »In spätestens einem Monat bin ich wieder da.«
18. Juni 1992, Braşov
Transsilvanien, Rumänien
Nicu L ă c ă tu ş stand vor der Ziegelbrennerei, die beiden Kleinen drängten sich an ihn, um sich vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Wo die zwei Großen waren, wusste der Himmel. Er hatte keine Ahnung, wie Silvia es schaffte, sie alle beieinanderzuhalten. Er sah nach oben. Über den Bergen um Bra ş ov waren dunkle Wolken aufgezogen, die jetzt tief über der Stadt hingen.
Nicu schob seine Söhne unter ein Vordach, in das der Rost Löcher gefressen hatte. Wie auf Kommando ertönte die dumpfe Sirene, kurz darauf kamen die ersten Arbeiterinnen aus dem Tor.
Er spürte seinen Herzschlag, hart und schnell. Er nahm es hin, es ließ sich nicht ändern. Wenn er hier wartete, um Silvia die Kinder zu übergeben, bevor er selbst zur Nachtschicht in die Metallfabrik auf der anderen Straßenseite ging, wuchs mit jeder Sekunde die Angst, dass sie nicht kam. Ein Unfall, nichts Konkretes. Einfach, dass sie nicht mehr da war in seinem
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