Lennox 01 - Lennox
Prolog
Ich habe mich schon oft aus einer Klemme herausreden müssen, aber so eng wie diesmal war es noch nie.
Im Obergeschoss eines leeren Lagerhauses am Hafen lehne ich an der Wand. Ich lehne an der Wand, weil ich meine Zweifel habe, dass ich noch aufrecht stehen könnte, ohne mich irgendwo festzuhalten. Ich überlege, ob links unten in meinem Unterleib, gleich über der Hüfte, irgendwelche lebenswichtigen Organe sitzen. Ich versuche mir die anatomischen Zeichnungen aus dem Lexikon, in das ich als Kind geschaut habe, ins Gedächtnis zu rufen, denn falls dort wirklich lebenswichtige Organe sitzen, habe ich es so ziemlich hinter mir.
Ich lehne an der Wand eines leeren Lagerhauses am Hafen und versuche mich an anatomische Zeichnungen zu erinnern, und ungefähr drei Meter vor mir liegt eine Frau auf dem Boden. Ich brauche mir kein Lexikon aus der Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, um zu wissen, welches ziemlich wichtige Organ im Schädel eines Menschen sitzt, auch wenn ich mich in den letzten vier Wochen mit dem Gebrauch besagten Organs nicht gerade hervorgetan habe. Jedenfalls ist vom Kopf der Frau auf dem Boden nicht viel übrig, und ihr Gesicht fehlt ganz, was eine Schande ist, weil sie ein schönes Gesicht hatte. Ein wunderschönes Gesicht.
Neben der Frau ohne Gesicht liegt hingeworfen eine große Segeltuchtasche auf dem schmutzigen Boden. Ihr Inhalt ist zur Hälfte herausgefallen: eine große Menge gebrauchter Banknoten von hohem Nennwert.
Ich lehne an der Wand eines leeren Lagerhauses am Hafen, ein Loch in meiner Seite, während eine tote Frau ohne ihr schönes Gesicht und eine große Tasche voller Geld vor mir auf dem Boden liegen. Und als wäre das nicht schon genug, steht vor mir ein Bär von einem Mann, der auf die tote Frau hinunterstarrt, dann auf die Tasche und jetzt auch auf mich. In den Händen hält er eine Schrotflinte. Es ist dieselbe Waffe, der das schöne Gesicht der Frau zum Opfer gefallen ist.
Ich war schon in angenehmeren Situationen.
Ich glaube, ich muss es erklären.
1
Vier Wochen und einen Tag zuvor hatte ich Frankie McGahern noch gar nicht gekannt und wusste auch nicht, wie erstrebenswert dieser Zustand war. Mein Leben verlief zugegebenermaßen nicht ohne Hochs und vor allem Tiefs, aber ich stand mich gut mit vielen Leuten, denen andere lieber aus dem Weg gingen. Doch Frankie McGaherns leuchtender Stern sollte erst noch über den Himmel meines Lebens ziehen.
Den Namen McGahern hatte ich natürlich schon gehört. Frankie war die eine Hälfte eines Zwillingspaares, den McGahern-Brüdern. Tam, Frankies um drei Minuten älterer Bruder, war eine lokale Größe. Er war ein stadtbekannter Gangster in Glasgow, aber bloß ein Mittelgewicht – einer von denen, die von den großen Fischen in Ruhe gelassen wurden, weil sich mit ihnen anzulegen mehr Aufwand bedeutet hätte, als sie letzten Endes wert waren.
An den McGahern-Zwillingen war etwas Komisches; aber das hängt natürlich davon ab, was man für komisch hält: Äußerlich glichen sie sich wie ein Ei dem anderen, doch ihre Ähnlichkeit endete an der obersten Hautschicht. Im Gegensatz zu seinem Bruder war Tam McGahern clever, zäh und wirklich gefährlich. Er tötete ohne Reue. Die Brutalität, die er in den Seitenstraßen und Hausdurchgängen von Clydebank erlernt hatte, war während des Krieges in Nordafrika und im Nahen Osten professionell ausgefeilt worden. Tam die Gassenratte war zur dekorierten Wüstenratte geworden.
Sein Bruder Frankie hatte dank einer schwachen Lunge keinen Militärdienst leisten müssen. Während Tam im Felde war, hatte sich der weniger intelligente Frankie um das gemeinsame Geschäft gekümmert. Als Tam nach seiner Rückkehr aus Nahost wieder die Zügel in die Hand nahm, hatte Frankie den Laden beinahe heruntergewirtschaftet, weil er sich von jedem Penner auf der Nase herumtanzen ließ. Doch kaum hatte Tam wieder die Herrschaft über das kleine Imperium der McGaherns angetreten, florierte das Geschäft wie vor dem Krieg.
Doch auch wenn die Gewinne der McGaherns ansehnlich waren – sie kamen nicht einmal in Rufweite der »Drei Könige«, wie das Triumvirat der Glasgower Gangsterbosse genannt wurde, das die Stadt kontrollierte und von dem ich einen Großteil meiner Aufträge bekam. Die Drei Könige setzten Tam McGahern enge Grenzen; davon abgesehen ließen sie ihn und seinen Bruder in Ruhe. Tam erinnerte an einen schlafenden Hund, den man lieber nicht weckt. Er war ein bösartiger, tollwütiger,
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