Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
beginnen. Sie hoffte, unser Vater hätte in der Zwischenzeit seine Meinung über ihn geändert. Doch das war nicht der Fall. Vater wurde zornig und beschimpfte sowohl die Hebamme als auch Ian. Er ahnte nicht, dass Ronen und ich uns in der Halle versteckt hatten und alles mit anhörten. Wir waren sehr verstört darüber, welche Worte unser Vater, der mit uns immer liebevoll umging, den beiden an den Kopf warf. In diesem Augenblick war uns klar geworden, dass Ian nichts Schlechtes getan hatte. Wäre Mutter bei meiner oder Ronens Geburt gestorben, dann wären ich oder Ronen jetzt in seiner Lage. Vaters Verhalten war furchtbar ungerecht und wir beschlossen Ian zu helfen. Das war nicht leicht, denn Vater hatte verfügt, dass Ian eine ‚Unterweisung‘ bekäme, allerdings nicht bei unserem Hauslehrer, sondern bei den Knechten auf dem Feld. Jeden Morgen musste er auf dem Burghof erscheinen und erhielt Arbeit zugeteilt, oft bis in die Abendstunden.
Aber immer wenn es möglich war, schlich Ian zu uns. Er ist ein geschickter Kletterer und gelangte so ungesehen in mein Schlafzimmer – einen Raum, den mein Vater oder die Diener nie betreten würden ohne vorher anzuklopfen. Und dann begann unser Unterricht. Der Hauslehrer wäre entsetzt gewesen über meine Art des Lehrens, doch es klappte.“ An dieser Stelle erschien ein stolzes Lächeln auf Charlottes Gesicht. „Leider ging es nur langsam voran, da Ian nicht täglich kommen konnte und oft viel zu müde war. Doch er strengte sich sehr an.“
Lord Greystone war in Charlottes Erzählung versunken gewesen, jetzt sah er auf und ein Funkeln trat in seine Augen. „Also kann Ian doch lesen, schreiben und rechnen?“
„Ja, aber wir haben es Vater nie gesagt. Ihr könnt euch bestimmt denken, dass es ihm nicht gefallen hätte. Wir haben auch Tanzen und höfisches Benehmen geübt.“
„Das ist mir aufgefallen. Für einen Knecht drückt er sich einfach zu gewählt aus.“
„Ian hat den Unterricht genossen. Auch wenn er nie darüber spricht, leidet er entsetzlich unter der Missachtung unseres Vaters. Wenn er bei uns war, konnte er sich wenigstens für einige Stunden dazugehörig fühlen“, erklärte Charlotte.
„Es ist auch nicht richtig“, ergänzte Ronen die Ausführungen seiner Schwester, „dass Ian nicht mit einem Schwert umgehen kann. Wir haben als Jungen heimlich zusammen trainiert. Er war sogar recht gut und Kraft hatte er durch die Feldarbeit sowieso. Doch als ich in die Schule nach Seaside ging, war es mir nur noch selten möglich ihn zu unterweisen. Bedauerlicherweise, denn meiner Meinung nach ist an Ian ein begabter Kämpfer verloren gegangen.“
„Nie werde ich seine traurigen Blicke vergessen“, sagte Charlotte, „wenn wir am Ende jeden Sommers in die Kutsche stiegen, die Ronen zur Schule und mich zu Verwandten brachte, und er alleine in Darkwood zurückbleiben musste.“
„Hätte denn sonst niemand Ian helfen können?“, wollte Joanna wissen.
Charlotte verneinte. „Wir leben sehr zurückgezogen. Nachbarn und Verwandte, die von Ians Geburt wussten, wurden mit der Geschichte über eine angebliche Krankheit auf Abstand gehalten. Wenn Gäste – so wie ihr – kamen, musste er sich versteckt halten, damit durch seine Ähnlichkeit zu Ronen keine Fragen aufkamen.“
„Ich versichere euch“, erklärte Ronen, „sobald ich der Baron of Darkwood bin, wird Ian so behandelt, wie es ihm seiner Geburt nach zusteht.“
Auf seine Worte hin herrschte Schweigen. Niemand zweifelte an Ronens Versprechen, doch war allen klar, dass die Einlösung noch Jahre auf sich warten lassen konnte. Nach einiger Zeit durchbrach Joanna die aufgekommene Stille mit einer Frage, die sie seit dem Abendessen beschäftigte. „Warum ist Ian so dünn? Eure anderen Knechte sehen nicht so ausgehungert aus.“
„Bis vor einem Jahr wohnte Ian immer noch bei der Bauernfamilie.“ Ronen antwortete, ohne ihr in die Augen zu blicken. „Dann aber sah Vater, wie er zusammen mit den jungen Männern aus dem Dorf eine Schankwirtschaft besuchte. Vater kam zu dem Schluss, Ian nähme sein Schicksal nicht angemessen ernst und ordnete an, er müsse fortan im Tagelöhnerhaus leben.“
„Was!?“ Joanna und ihr Bruder waren gleichermaßen bestürzt. Im Gegensatz zur Unterkunft der Knechte, die sich in der Burg befand, lag das Tagelöhnerhaus außerhalb der schützenden Mauern. Tagelöhner blieben kaum länger als eine Erntezeit bei einem Herrn. Es waren raue Kerle, von denen viele schon etliche
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