Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
Fragen auf, die für die Familie sehr unangenehm sein würden. Aber der Burghof war nicht der geeignete Ort, dies alles zu besprechen. „Schön, nachdem die Familie vollständig ist, sollten wir das Essen nicht warten lassen“, sagte er in gespielter Fröhlichkeit und drehte sich zur Tür.
Hinter ihm ertönte die kalte Stimme des Barons: „Ian bleibt draußen.“
Lord Greystone bemerkte, wie Ians Blick sich bei den Worten seines Vaters verfinsterte und er sich von ihm zu lösen versuchte. Er lockerte seinen Griff jedoch nicht. „Das ist etwas, was wir nicht vor Euren Bediensteten besprechen sollten, Baron “, antwortete er in einem Tonfall, der deutlich machte, wer von ihnen beiden den höheren Adelsrang bekleidete. Dann betrat er mit Ian zusammen die Burghalle.
Die anderen folgten ihnen schweigend an die festlich geschmückte Tafel und die Diener beeilten sich, unauffällig ein weiteres Gedeck aufzulegen. Als Familienoberhäupter hatten der Baron und Lord Greystone jeweils das Kopfende des Tisches inne. Joanna saß neben Ronen, Charlotte und Ian nahmen auf der gegenüberliegenden Seite Platz. Die Wiedersehensfreude der Begrüßung war einer peinlichen Stille gewichen.
Schließlich räusperte sich Charlotte und wandte sich Joanna und ihrem Bruder zu. „Es ist schön, dass ihr auf eurem Rückweg aus dem Norden hier Halt gemacht habt. Erzählt uns doch, was ihr auf eurer Reise dorthin gesehen und erlebt habt!“
Der Earl ging auf ihre Bitte ein und allmählich entstand eine bemüht heitere Unterhaltung am Tisch. Nur Joanna fiel es schwer, dem Gespräch zu folgen. Sie beobachtete Ian, den nicht nur seine zerlumpte Erscheinung zum Außenseiter in der Runde machte. Er fühlte sich sichtlich unwohl und starrte fortwährend auf seinen Teller. Ihr Bruder hatte ihr berichtet, wie ein hilfsbereiter Fremder dem Unfall zu einem glücklichen Ausgang verholfen hatte. Das passte so gar nicht zu dem jungen Mann, der nun hastig sein Essen verzehrte. Vor allem das Fleisch schlang er dermaßen schnell hinunter, dass es ihr wohl im Hals stecken geblieben wäre.
Ein Diener kam, um Ian ein Stück Braten nachzulegen, doch der Baron scheuchte ihn mit einer Handbewegung davon. Empörung stieg in Joanna auf. Wie konnte der Baron seinem eigenen Sohn das Essen verweigern? Und so abgemagert wie Ian aussah, bekam er selten ausreichend Nahrung. Eine Frage, die Ronen ihr stellte, riss Joanna aus ihren Überlegungen. Noch während sie ihm antwortete, verglich sie insgeheim die zwei Darkwood-Brüder. Beide hatten schwarze Haare, dunkle Augen und dasselbe gut geschnittene Gesicht. Nur in der Mundpartie unterschieden sie sich deutlich. Ronen hatte den harten, schmalen Mund seines Vaters geerbt, Ian hingegen besaß ebenso fein geschwungene Lippen wie seine Schwester. Ob er auch so gerne lachte wie Charlotte? Aber er hatte wahrscheinlich selten Grund dazu. Welches Alter mochte er haben? Charlotte war sechsundzwanzig, demnach könnte er … Aber warum sollte sie herumrätseln, wenn sie genauso gut fragen konnte? „Wie alt bist du?“, erkundigte sie sich daher kurzentschlossen bei ihrem Gegenüber.
Ian blickte von seinem Teller auf und sah sie überrascht an. Doch es war Ronen, der ihr antwortete: „Ian ist fünfundzwanzig – wie du, Joanna.“
Nun richtete der Earl eine Frage an den jüngeren Sohn des Barons: „Hast du deine schulische Ausbildung in Burg Seaside absolviert wie Ronen?“
Joanna horchte auf. Seit einigen Jahrzehnten wurden die adligen Söhne von ihrem zwölften bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr gemeinschaftlich an Schulen unterrichtet, während die Töchter zur Vervollständigung ihrer Erziehung weiterhin zu Verwandten geschickt wurden. Aber auch diesmal war dem jungen Mann eine eigene Antwort nicht vergönnt.
„Ian hat keine der beiden Adelsschulen Telamens besucht“, erklärte sein Vater. „Er war ein schwaches Kind und ständig krank. Deswegen konnte er weder lesen noch schreiben lernen, von allem anderen ganz zu schweigen. Er ist nicht sehr klug und fühlt sich bei gesellschaftlichen Anlässen überfordert, wie Ihr unschwer erkennen könnt. Ich wollte Euch diesen Anblick ersparen, Lord Greystone, aber Ihr bestandet unbedingt darauf.“ Selbstgefällig und ohne Scham, seinen Sohn vor Gästen derart bloßgestellt zu haben, blickte der Baron Lord Greystone an und hoffte auf dessen Zustimmung.
Joanna kannte ihren Bruder gut genug, um zu merken, dass dieser trotz seiner äußeren Gelassenheit wütend
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