Grim - Das Siegel des Feuers
Wir können nicht das Risiko eingehen, dass ...«
Da hob Moira den Blick, und fast wütend kamen die Worte aus ihrem Mund: »Du weißt nicht mehr, wie es ist, für einen Menschen ein Seelenspiegel zu sein, ihn auf den Grund seines Ichs zu tragen, auf deinen eigenen Händen. Du weißt nicht, wie es ist, die Dämmerwelt mit diesem fremden Wesen auf deinen Armen zu durchwandern, bis an den Rand der Totenwelt. Du bist nie mit einem von ihnen in die Welt der Träume gereist. Wir können nicht nur mit unseren Schwingen fliegen, hast du das vergessen? Wir können auch fliegen auf ihren Träumen. Wir konnten die Menschen hinbringen, wohin sie allein niemals gelangen konnten. Wir konnten ihnen helfen — wie sie uns helfen konnten.«
Grim hatte von der Fähigkeit des Seelenspiegelns gehört. Dabei trug ein Gargoyle einen Menschen durch die Zwischenwelt — jene Welt, die Sterbliche nur auf den unsterblichen Schwingen eines Zwischenweltlers oder durch Verlust ihres Lebens durchqueren können. So konnten Menschen in andere Welten gelangen — Welten, die sie verloren hatten, Welten, nach denen sie sich sehnten — oder in die Welt der Träume, wo alles möglich war. Grim kannte keinen Gargoyle, der auch nur daran gedacht hätte, als Seelenspiegel zu fungieren, nur um einen Menschen sonst wohin zu schleppen. Er biss die Zähne zusammen. Nicht einmal Mourier würde auf so einen Einfall kommen, und das hieß einiges.
»Der Zauber wirkt nicht nur auf die Menschen«, sagte Moira nach einer Weile. »Er hat auch Auswirkungen auf uns. Fällt dir das nicht auf? Wir leben in einer Atmosphäre der Angst — ja, wir haben Angst, so sehr, dass wir uns selbst in Ketten legen und alles töten, was unsere Unfreiheit gefährdet. Alles, was Schmerzen bereiten könnte.«
Grim presste die Zähne aufeinander. Irgendwie hatte er das in dieser Nacht schon mal gehört. »Unsinn«, murmelte er. »Kein anständiger Gargoyle hat Angst.«
Moiras Lächeln brannte auf seiner Stirn, als sie antwortete: »Du bist das beste Beispiel. Du hast erlebt, wovon ich spreche. Aber jetzt ist an die Stelle von allem, was du hattest, die Angst getreten.«
Da stieß Grim die Luft aus. »Blödsinn. Angst! Ich nenne das Vernunft! Und sie kam viel zu spät. Die Sache hat mir nur Ärger und Schmerz gebracht. Das ist alles, was uns bleibt, wenn sie fortgehen.«
Aus irgendeinem Grund war er außer Atem, aber seine Worte hatten ihn zur Besinnung gebracht. Jegliche Gefühlsduselei war wie weggewischt. Und doch kroch ihm Kälte in die Wangen, als Moira ihn ansah, so traurig, wie aus weiter Ferne. Es hatte nur wenige Momente gegeben, in denen Grim ihr wahres Alter gefühlt hatte, und wie immer fröstelte er jetzt, als er es tat.
»Du wirst keine Antworten von mir bekommen«, sagte sie. »Der Junge trägt keine bösen Absichten. Ich weiß, dass die Gesetze der OGP dich verpflichten, jeden Hartiden auszuliefern. Aber ich bürge für ihn, und ich möchte, dass du ihn in Frieden lässt. Ich weiß, dass du mir diese Bitte nicht abschlagen wirst, wenn ich schon nicht sagen kann: Gib auf ihn acht.«
Grim hatte gerade den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als sie nach seiner Hand griff. Erschrocken fuhr er zurück. Er war es nicht gewohnt, auf diese Art berührt zu werden. Gargoyles taten das untereinander höchst selten, ganz besonders die Gargoyles von Paris.
»Dies ist ein Ort der Freiheit«, hörte er Moira sagen, doch er wusste nicht, ob sie die Worte laut aussprach oder nicht. »Deswegen bist du hierhergekommen, und deswegen meiden ihn die anderen. Du musst dir die Sehnsucht bewahren. Sie ist es, die uns lebendig hält.«
Mit angehaltenem Atem nickte Grim. Noch nie hatte er Moira so erlebt. Einen Augenblick sah sie ihn an, den Blick forschend auf seinem Gesicht — dann hob sie die Hand und strich, so rasch, dass er nicht zurückweichen konnte, über seine Wange. Ein Prickeln lief über seine steinerne Haut, als hätte Sonnenwärme ihn gestreift. Ein letztes Mal lächelte sie. Dann erhob sie sich mit leisem Flügelschlagen in die Nacht und verschwand.
Grim blieb noch eine ganze Weile im Schatten der Arena zurück. Er wälzte Moiras Worte in seinem Kopf hin und her, doch je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde er sich bewusst, dass sie ihm auf seine Fragen keine Antworten gegeben hatte. Stattdessen hatte sie ihm wieder einmal vor Augen geführt, wie wenig er dem Bild des idealen Gargoyles entsprach.
Das Gesicht eines Menschen tauchte vor ihm auf.
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