Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
warum bist du so traurig?«
»Liebstes Kind«, antwortete sie, »ich darf es dir nicht sagen.« Er ließ ihr aber keine Ruhe, bis sie ging und die Stube aufschloss, und ihm die zwölf mit Hobelspänen schon gefüllten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: »mein liebster Benjamin, diese Särge hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ich ein Mädchen zur Welt bringe, so sollt ihr allesamt getötet und darin begraben werden.«
Und als sie weinte, während sie das sprach, so tröstete sie der Sohn und sagte: »weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und wollen fortgehen.« Sie aber sprach: »geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setze sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schaue nach dem Turm hier im Schloss. Gebär ich ein Söhnlein, so will ich eine weiße Fahne aufstecken, und dann dürft ihr wiederkommen. Gebär ich ein Töchterlein, so will ich eine rote Fahne aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch. Alle Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, dass ihr an einem Feuer euch wärmen könnt, im Sommer, dass ihr nicht in der Hitze schmachtet.«
Nachdem sie also ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer hielt um den andern Wache, saß auf der höchsten Eiche und schaute nach dem Turm. Als elf Tage herum waren und die Reihe an Benjamin kam, da sah er, wie eine Fahne aufgesteckt wurde. Es war aber nicht die weiße, sondern die rote Blutfahne, die verkündete, dass sie alle sterben sollten. Wie die Brüder das hörten, wurden sie zornig und sprachen »sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden! Wir schwören, dass wir uns rächen wollen. Wo wir ein Mädchen finden, soll sein rotes Blut fließen.«
Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drein, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen, das leer stand. Da sprachen sie: »hier wollen wir wohnen, und du, Benjamin, du bist der Jüngste und Schwächste, du sollst daheimbleiben und haushalten, wir andern wollen ausgehen und Essen holen.« Nun zogen sie in den Wald und schossen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen, und was zu essen stand, das brachten sie dem Benjamin, der musste es ihnen zurechtmachen, damit sie ihren Hunger stillen konnten. In dem Häuschen lebten sie zehn Jahre zusammen, und die Zeit ward ihnen nicht lang.
Das Töchterchen, das ihre Mutter, die Königin, geboren hatte, war nun herangewachsen, war gut von Herzen und schön von Angesicht und hatte einen goldenen Stern auf der Stirne. Einmal, als große Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine Mutter: »wem gehören diese zwölf Hemden, für den Vater sind sie doch viel zu klein?« Da antwortete sie mit schwerem Herzen »liebes Kind, die gehören deinen zwölf Brüdern.« Sprach das Mädchen »wo sind meine zwölf Brüder, ich habe noch niemals von ihnen gehört.« Sie antwortete: »das weiß Gott, wo sie sind. Sie irren in der Welt herum.«
Da nahm sie das Mädchen und schloss ihm das Zimmer auf, und zeigte ihm die zwölf Särge mit den Hobelspänen und den Totenkisschen. »Diese Särge«, sprach sie, »waren für deine Brüder bestimmt, aber sie sind heimlich fortgegangen, eh du geboren warst«, und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Da sagte das Mädchen »liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder suchen.«
Nun nahm es die zwölf Hemden und ging fort und geradezu in den großen Wald hinein. Es ging den ganzen Tag, und am Abend kam es zu dem verwünschten Häuschen. Da trat es hinein und fand einen jungen Knaben, der fragte: »wo kommst du her und wo willst du hin?«, und erstaunte, dass sie so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern auf der Stirne hatte. Da antwortete sie: »ich bin eine Königstochter und suche meine zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde.«
Sie zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da sah Benjamin, dass es seine Schwester war, und sprach: »ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder.« Und sie fing an zu weinen vor Freude, und Benjamin auch, und sie küssten und herzten einander vor großer Liebe. Hernach sprach er: »liebe Schwester, es ist noch ein Vorbehalt da, wir hatten verabredet, dass ein jedes Mädchen, das uns begegnete, sterben sollte, weil wir um ein Mädchen unser
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