Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
Abgrund, und er trank das ganze Meer aus, daß es trocken ward wie eine Wiese. Der Lange bückte sich ein wenig und holte den Ring mit der Hand heraus. Da war der Königssohn froh, als er den Ring hatte, und brachte ihn der Alten. Sie erstaunte und sprach: »Ja, es ist der rechte Ring, den ersten Bund hast du glücklich gelöst. Aber nun kommt der zweite. Siehst du dort auf der Weise vor meinem Schloß, da weiden dreihundert fette Ochsen, die mußt du mit Haut und Haar, Knochen und Hörnern verzehren; und unten im Keller liegen dreihundert Fässer Wein, die mußt du dazu austrinken; und bleibt von den Ochsen ein Haar und von dem Wein ein Tröpfchen übrig, so ist mir dein Leben verfallen.«
Sprach der Königssohn: »Darf ich mir keine Gäste dazu laden? Ohne Gesellschaft schmeckt keine Mahlzeit.«
Die Alte lachte boshaft und antwortete: »Einen darfst du dir dazu laden, damit du Gesellschaft hast; aber weiter keinen.«
Da ging der Königssohn zu seinen Dienern und sprach zu dem Dicken: »Du sollst heute mein Gast sein und dich einmal satt essen.«
Da tat sich der Dicke voneinander und aß die dreihundert Ochsen, daß kein Haar übrigblieb, und fragte, ob weiter nichts als das Frühstück da wäre; den Wein aber trank er gleich aus den Fässern, ohne daß er ein Glas nötig hatte, und trank den letzten Tropfen vom Nagel herunter. Als die Mahlzeit zu Ende war, ging der Königssohn zur Alten und sagte ihr, der zweite Bund wäre gelöst. Sie verwunderte sich und sprach: »So weit hat’s noch keiner gebracht; aber es ist noch ein Bund übrig«, und dachte, du sollst mir nicht entgehen und wirst deinen Kopf nicht oben behalten.
»Heute abend«, sprach sie, »bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer, und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen; und wenn ihr da beisammensitzt, so hüte dich, daß du nicht einschläfst! Ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.«
Der Königssohn dachte, der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offenbehalten, doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte, und sprach: »Wer weiß, was für eine List dahintersteckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt, daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.«
Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlug sich der Lange um sie beide in einem Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Türe, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort; aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er tat nichts, als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr; da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.
Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf; da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. »O Jammer und Unglück«, rief der Königssohn, »nun bin ich verloren!«
Die treuen Diener fingen auch an zu klagen; aber der Horcher sprach: »Seid still, ich will horchen«; da horchte er einen Augenblick, und dann sprach er: »Sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer; wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.« – »Ja«, antwortete der Lange, »aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.«
Da kuckte der Lange den mit den verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie man eine Hand umwendet, waren sie vor dem verwünschten Felsen. Alsbald nahm der Lange dem andern die Binde von den Augen, der sich nur umschaute, so zersprang der Felsen in tausend Stücke. Da nahm der Lange die Jungfrau auf den Arm, trug sie in einem Nu zurück, holte ebenso schnell auch seinen Kameraden, und ehe es zwölf schlug, saßen sie alle wieder wie vorher und waren munter und guter Dinge. Als es zwölf schlug, kam die alte Zauberin herbeigeschlichen, machte ein höhnisches Gesicht, als wollte sie sagen, nun ist er mein, und glaubte, ihre Tochter säße dreihundert Stunden weit im Felsen. Als sie aber ihre Tochter in den Armen des Königssohns erblickte, erschrak sie und sprach: »Da ist einer, der kann mehr als ich.«
Aber sie durfte nichts einwenden und mußte ihm die
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