Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
er den Reisenden erblickte, richtete sich in die Höhe und sprach: »Wenn Ihr jemand braucht, so nehmt mich in Eure Dienste.«
Der Königssohn antwortete: »Was soll ich mit einem so ungefügen Mann anfangen?« – »Oh«, sprach der Dicke, »das will nichts sagen; wenn ich mich recht auseinander tue, bin ich noch dreitausendmal so dick.« – »Wenn das ist«, sagte der Königssohn, »so kann ich dich brauchen, komm mit mir.«
Da ging der Dicke hinter dem Königssohn her, und über eine Weile fanden sie einen andern, der lag da auf der Erde und hatte das Ohr auf den Rasen gelegt. Fragte der Königssohn: »Was machst du da?« – »Ich horche«, antwortete der Mann. »Wonach horchst du so aufmerksam?« – »Ich horche nach dem, was eben in der Welt sich zuträgt; denn meinen Ohren entgeht nichts, das Gras sogar hör ich wachsen.«
Fragte der Königssohn: »Sag mir, was hörst du am Hofe der alten Königin, welche die schöne Tochter hat?«
Da antwortete er: »Ich höre das Schwert sausen, das einem Freier den Kopf abschlägt.«
Der Königssohn sprach: »Ich kann dich brauchen, komm mit mir.«
Da zogen sie weiter und sahen einmal ein Paar Füße daliegen und auch etwas von den Beinen, aber das Ende konnten sie nicht sehen. Als sie eine gute Strecke fortgegangen waren, kamen sie zu dem Leib und endlich auch zu dem Kopf. »Ei«, sprach der Königssohn, »was bist du für ein langer Strick!« – »Oh«, antwortete der Lange, »das ist noch gar nichts; wenn ich meine Gliedmaßen erst recht ausstreckte, bin ich noch dreitausendmal so lang und bin größer als der höchste Berg auf Erden. Ich will Euch gerne dienen, wenn Ihr mich annehmen wollt.« – »Komm mit«, sprach der Königssohn, »ich kann dich brauchen.«
Sie zogen weiter und fanden einen am Weg sitzen, der hatte die Augen zugebunden. Sprach der Königssohn zu ihm: »Hast du blöde Augen, daß du nicht in das Licht sehen kannst?« – »Nein«, antwortete der Mann, »ich darf die Binde nicht abnehmen; denn was ich mit meinen Augen ansehe, das springt auseinander, so gewaltig ist mein Blick. Kann Euch das nützen, so will ich Euch gern dienen.« – »Komm mit«, antwortete der Königssohn, »ich kann dich brauchen.«
Sie zogen weiter und fanden einen Mann, der lag im heißen Sonnenschein und zitterte und fror am ganzen Leibe, so daß ihm kein Glied stillstand. »Wie kannst du frieren?«, sprach der Königssohn, »und die Sonne scheint warm.«
»Ach«, antwortete der Mann, »meine Natur ist ganz anderer Art; je heißer es ist, desto mehr frier ich, und der Frost dringt mir durch alle Knochen. Und je kälter es ist, desto heißer wird mir; mitten im Eis kann ich’s vor Hitze und mitten im Feuer vor Kälte nicht aushalten.« – »Du bist ein wunderlicher Kerl«, sprach der Königssohn; »aber wenn du mir dienen willst, so komm mit.«
Nun zogen sie weiter und sahen einen Mann stehen, der machte einen langen Hals, schaute sich um und schaute über alle Berge hinaus. Sprach der Königssohn: »Wonach siehst du so eifrig?«
Der Mann antwortete: »Ich habe so helle Augen, daß ich über alle Wälder und Felder, Täler und Berge hinaus und durch die ganze Welt sehen kann.«
Der Königssohn sprach: »Willst du, so komm mit mir, denn so einer fehlte mir noch.«
Nun zog der Königssohn mit seinen sechs Dienern in die Stadt ein, wo die alte Königin lebte. Er sagte nicht, wer er wäre; aber er sprach: »Wollt Ihr mir Eure schöne Tochter geben, so will ich vollbringen, was Ihr mir auferlegt.«
Die Zauberin freute sich, daß ein so schöner Jüngling wieder in ihre Netze fiel, und sprach: »Dreimal will ich dir einen Bund aufgeben, lösest du ihn jedesmal, so sollst du der Herr und Gemahl meiner Tochter werden.« – »Was soll das erste sein?«, fragte er. »Daß du mir einen Ring herbeibringst, den ich ins Rote Meer habe fallen lassen.«
Da ging der Königssohn heim zu seinen Dienern und sprach: »Der erste Bund ist nicht leicht, ein Ring soll aus dem Roten Meer geholt werden, nun schafft Rat.«
Da sprach der mit den hellen Augen: »Ich will sehen, wo er liegt«, schaute in das Meer hinab und sagte: »Dort hängt er an einem spitzen Stein.«
Der Lange trug sie hin und sprach: »Ich wollte ihn wohl herausholen, wenn ich ihn nur sehen könnte.« – »Wenn’s weiter nichts ist«, rief der Dicke, legte sich nieder und hielt seinen Mund ans Wasser; da fielen die Wellen hinein wie in einen
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