Grimpow Das Geheimnis der Weisen
waren der versiegelte Brief und das goldene Petschaft ihre einzigen Anhaltspunkte und das bereitete Grimpow Kopfzerbrechen.
Nachdem sie die Satteltasche mit Erde und Schnee bedeckt hatten, schlugen sie den gewundenen Weg zur Abtei ein, der einen Hang hinaufführte.
»Im Himmel sind das Dunkel und das Licht«, wiederholte Grimpow laut die Worte, die er beim Anblick der seltsamen Zeichen ausgesprochen hatte.
»Das klingt wirklich wie die Beschwörung eines Magiers, also sprich den Satz besser nicht so nah bei einer Kirche aus. Sonst schleudert der liebe Gott noch sein himmlisches Licht nach uns und verbannt uns für immer ins Dunkel der Hölle«, verkündete Durlib voller Vergnügen über sein gelungenes Wortspiel.
»Dieser Satz ist sicher weit mehr als das, Durlib. Ich überlege gerade, ob er vielleicht eine Losung ist, ein Schlüssel, dessen wahre Bedeutung einzig dieser Aidor Bilbicum in Straßburg kennt.«
»Nur Magier und Hexenmeister wissen um die Wirkung der Zauberformeln, die sie in ihren Ritualen und Beschwörungenanwenden. Wir reden also über ein und dasselbe. Ich habe einmal gesehen, wie eine alte Hexe einer Frau den Teufel ausgetrieben hat. Die Frau lag die ganze Zeit auf dem Boden und zappelte und sabberte wie ein verendendes Tier. Die Hexe tanzte unentwegt um sie herum, und ihre Worte klangen, als kämen sie aus dem Mund eines teuflischen Ungeheuers.«
»Du redest von Aberglauben und Zauberei, ich dagegen meine weit mehr als das. Ich würde den Satz sogar so deuten, dass im Himmel die Unwissenheit liegt, nämlich die Dunkelheit, aber auch das Licht, womit nichts anderes gemeint ist als Wissen und Weisheit. Der Aberglaube und die Verhexungen, von denen du sprichst, entspringen der Unwissenheit des Volkes. Es gibt weder Götter noch Dämonen, Durlib, sie sind bloß eine Erfindung der Menschen, um sich die Welt zu erklären«, eröffnete Grimpow seinem Freund, erneut erstaunt über seine Wortwahl.
»Bist du sicher, dass wirklich du zu mir sprichst und nicht der Geist des geheimnisvollen toten Edelmannes?«, wollte Durlib wissen und sah den Jungen an, ohne seine Befürchtungen und Bedenken zu verhehlen.
»Was macht das schon für einen Unterschied?«, fragte Grimpow, um eine Antwort verlegen, zurück.
»Das macht sogar einen gewaltigen Unterschied. Wenn der Abt von Brinkum dich hören könnte, würde er denken, du wärst den Dämonen zum Opfer gefallen. Sicherlich würde er dafür Sorge tragen, dass du zur Abschreckung vor ganz Ullense auf dem Scheiterhaufen verbrannt wirst.«
»Selbst wenn du mich jetzt auslachst - ich glaube, genau davor ist der tote Edelmann geflohen«, verkündete Grimpow im Brustton der Überzeugung.
»Ein Grund mehr, in ihm einen von der Inquisition verfolgten Magier, Hexenmeister oder Anbeter der Finsternis zu sehen, deren Seelen im Feuer geläutert werden sollen«, sagte Durlib genau in dem Moment, als sie die Pforte der Abtei erreichten.
Die Nacht senkte sich schon mit dichten Schattenschleiern über das Tal, als ihnen ein scheuer Riese mit gekrümmtem Rücken die Pforte öffnete. Der Diener, den die Mönche Keno nannten, schien für die Neuankömmlinge keine Sympathie zu hegen. Er starrte sie nur wortlos an, als wäre er plötzlich stumm geworden oder als hätte der Wind gerade mit seinen unsichtbaren Händen an die Klosterpforte geklopft.
»Willst du nicht zwei arme Reisende einlassen, die kein Feuer haben, an dem sie sich wärmen können, und auch kein Bett, auf dem ihr müder Leib ruhen kann, mein lieber Keno?«, fragte Durlib mit einer angedeuteten Verbeugung.
Ohne ein Wort schloss der Diener die Pforte wieder und Grimpow und Durlib hörten ihn davonschlurfen. Sie nahmen an, er hole sich bei einem Mönch oder dem Abt die Erlaubnis, sie einzulassen, aber als er nicht wiederkam, betätigte Durlib den Türklopfer noch einmal. Diesmal mit größerer Entschlossenheit.
»Ich komme ja schon!«, flötete eine Stimme auf der anderen Seite.
Es handelte sich um Bruder Brasco, der rund war wie ein Weinfass und immerzu lächelte. Grimpow hatte ihn stets in der Küche und an der Feuerstelle mit allerlei Töpfen, Fleischstücken und Gemüsebündeln hantieren sehen. Der Mönch schob den Riegel zurück, und als er die beiden starr vor Kälte vor sich stehen sah, trat ein spöttisches Lächeln auf seine fleischigen Lippen.
»Herein mit euch, bevor die Kälte euch noch den Atem nimmt und eure Knochen gefrieren«, sagte er. »Darf man erfahren, was uns diesen unverhofften Besuch
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