Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
verschwunden. Die Villa steht neben dem Kloster von Sankta Lisaweta, weißt du noch? Tamar hat mich ihm ausgeliefert und ihn auch entkommen lassen.« Ich merkte, dass ich trotz meiner Schwäche verbittert klang.
Langsam setzte sich das ganze Bild zusammen. Nur Tolja und Tamar hatten von dem Fest gewusst. Sie hatten dafür gesorgt, dass der Asket mit mir sprechen konnte. An dem Morgen, als ich fast einen Aufstand ausgelöst hatte, waren sie schon vor den Stadtmauern gewesen, um gemeinsam mit den Pilgern den Sonnenaufgang zu erleben. Nur darum waren sie so rasch zur Stelle gewesen. Und Tamar war bei der ersten Ahnung von Gefahr aus dem Adlerhorst verschwunden. Ich wusste zwar, dass die letzten paar Grischa ihr Überleben nur den Zwillingen und deren Sonnenkämpfern zu verdanken hatten, aber dass sie gelogen hatten, verletzte mich trotzdem.
»Wie geht es den anderen?«
Maljen schaute über die Schulter zu den zerlumpten Grischa, die sich in die Schatten kauerten.
»Sie haben von dem Schuppenarmband erfahren«, sagte er. »Und sie fürchten sich.«
»Wissen sie vom Feuervogel?«
Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
»Ich werde sie bald darüber in Kenntnis setzen.«
»Sergej geht es nicht gut«, fuhr Maljen fort. »Ich glaube, er steht immer noch unter Schock. Alle anderen beißen die Zähne zusammen.«
»Und Genja?«
»Sie folgt uns gemeinsam mit David. Sie ist sehr langsam.« Er verstummte kurz. »Die Pilger nennen sie Razruscha’ja .«
Die Verheerte.
»Ich muss mit Tolja und Tamar sprechen.«
»Du musst dich ausruhen.«
»Jetzt gleich«, sagte ich. »Bitte.«
Er stand auf, zögerte aber. Als er wieder etwas sagte, klang er heiser. »Du hättest mir sagen sollen, was du vorhattest.«
Ich wandte den Blick von ihm ab. Die Kluft zwischen uns schien noch tiefer zu sein als zuvor. Ich habe versucht, dich zu befreien, Maljen. Vom Dunklen. Von mir.
»Du hättest nicht verhindern dürfen, dass ich es zu Ende bringe«, sagte ich. »Du hättest mich sterben lassen sollen.«
Als ich hörte, wie seine Schritte sich entfernten, ließ ich das Kinn auf die Brust sinken. Ich atmete flach, hechelte fast. Als ich wieder die Kraft fand, den Kopf zu heben, knieten Tolja und Tamar mit gesenktem Kopf vor mir.
»Seht mich an«, sagte ich.
Sie gehorchten. Tolja hatte die Ärmel hochgekrempelt und ich stellte fest, dass seine muskulösen Oberarme mit vielen Sonnen tätowiert waren.
»Warum habt ihr es mir verschwiegen?«
»Du hättest uns nie in deiner Nähe geduldet«, antwortete Tamar.
Das stimmte. Selbst jetzt wusste ich nicht, was ich von ihnen halten sollte.
»Warum habt ihr mich in der Kapelle nicht sterben lassen, wenn ihr tatsächlich glaubt, ich wäre eine Heilige? Vielleicht wäre das mein vorherbestimmter Märtyrertod gewesen.«
»Wenn du dort gestorben wärst«, erwiderte Tolja, ohne zu zögern, »hätten wir dich nicht rechtzeitig in den Trümmern gefunden, um dich wiederbeleben zu können.«
»Ihr habt zugelassen, dass Maljen mir nachgerannt ist. Obwohl ihr einen Schwur abgelegt hattet.«
»Er hat sich losgerissen«, sagte Tamar.
Ich zog eine Augenbraue hoch. Der Tag, an dem Maljen sich aus Toljas Griff entwinden konnte, wäre der Tag eines wahren Wunders.
Tolja ließ den Kopf hängen. Seine breiten Schultern bebten. »Vergib mir«, sagte er. »Es stand mir nicht zu, ihn von dir fortzuhalten.«
Ich seufzte. Das war mir ein schöner heiliger Krieger.
»Dient ihr mir?«
»Ja«, sagten sie wie aus einem Mund.
»Nicht dem Priester?«
»Wir dienen dir«, brummte Tolja entschieden.
»Abwarten«, murmelte ich und entließ sie mit einem Wink. Sie erhoben sich, aber ich rief sie noch einmal zurück. »Es gibt Pilger, die Genja jetzt Razruscha’ja nennen. Warnt sie genau ein Mal. Wenn sie das Wort danach noch einmal benutzen, werdet ihr ihnen die Zunge abschneiden.«
Sie zuckten mit keiner Wimper. Sie verneigten sich und waren verschwunden.
Die Weiße Kathedrale war eine Grotte aus Alabasterquarz und sie war so riesig, dass ihre elfenbeinfarbene, glänzende Weite eine ganze Stadt hätte beherbergen können. Die feuchten Wände waren von Schwämmen, sternförmigen Giftpilzen und salzigen Ausblühungen bedeckt. Sie verbarg sich irgendwo nördlich der Hauptstadt in den Tiefen der Erde.
Ich wollte dem Priester aufrecht entgegentreten, und so hielt ich mich an Maljens Arm fest, als man uns zu ihm führte, und versuchte mein Zittern und die Anstrengung zu verbergen, die es mich kostete, auf
Weitere Kostenlose Bücher