Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
mit der Gewalt einer Flutwelle über uns hinweg. Maljen rannte weiter. Ich stürzte aus seinen Armen. Die Welt ging unter.
Zuerst hörte ich Toljas tiefe Brummstimme. Ich konnte weder sprechen noch schreien. Ich spürte nur Schmerz und das unbarmherzige Gewicht der Erde. Wie ich später erfahren sollte, hatten sie sich stundenlang um mich bemüht, hatten mich beatmet, die Blutungen eingedämmt und versucht, meine schlimmsten Knochenbrüche zu heilen.
Immer wieder versank ich in der Bewusstlosigkeit. Mein Mund war trocken und zugeschwollen. Offenbar hatte ich mir in die Zunge gebissen. Ich hörte, wie Tamar Befehle gab.
»Bringt den Geheimgang hinter uns zum Einsturz. Wir müssen so weit weg von hier wie möglich.«
Maljen.
War er bei mir? Oder unter dem Schutt begraben? Es durfte nicht sein, dass sie ihn zurückließen. Ich zwang meine Lippen, seinen Namen zu formen.
»Maljen.« Ob sie mich hörten? Meine Stimme kam mir sonderbar gedämpft und unnatürlich vor.
»Sie hat Schmerzen. Sollen wir noch einmal ihren Herzschlag verlangsamen?«, fragte Tamar.
»Wir können nicht riskieren, dass ihr Herz wieder ganz aussetzt«, antwortete Tolja.
»Maljen«, wiederholte ich.
»Der Gang zum Konvent muss offen bleiben«, sagte Tamar zu irgendjemandem. »Hoffen wir mal, dass sie glauben, wir wären dort verschwunden.«
Das Kloster. Sankta Lisaweta. Die Gärten neben der Villa der Gritzkis. In meinem Kopf herrschte Chaos. Ich wollte wieder Maljens Namen sagen, aber meine Lippen gehorchten mir nicht. Der Schmerz übermannte mich. Was, wenn ich ihn verloren hatte? Hätte ich die Kraft besessen, dann hätte ich aufgeschrien. Ich hätte getobt. Stattdessen versank ich in Dunkelheit.
Als ich zu mir kam, schien die Welt unter mir zu schwanken. Ich erinnerte mich an das Erwachen an Bord des Walfängers und glaubte einen Augenblick voller Entsetzen, auf einem Schiff zu sein. Dann schlug ich die Augen auf und erblickte hoch über mir Erde und Gestein. Wir bewegten uns durch eine gewaltige Grotte. Zwei Männer transportierten mich auf einer Art Trage.
Ich musste darum kämpfen, bei Bewusstsein zu bleiben. Ich war schon immer eher kränklich und schwach gewesen, aber diese Müdigkeit war mir neu. Ich fühlte mich wie eine leere, ausgeschabte Hülle. Wäre hier, tief unter der Erde, ein Wind aufgekommen, dann hätte er mich zu nichts zerstieben lassen.
Es gelang mir, den Kopf zu drehen, obwohl jeder Knochen und Muskel in meinem Körper aufschrie.
Da war Maljen, er lag nur wenige Schritte entfernt von mir auf einer anderen Trage. Er betrachtete mich, als hätte er darauf gewartet, dass ich zu mir kam. Er streckte einen Arm aus.
Ich mobilisierte einen letzten Funken Kraft und griff über den Rand der Trage. Als unsere Finger sich berührten, hörte ich ein Schluchzen und begriff, dass ich weinte. Ich weinte vor Erleichterung, weil ich nicht mit der Bürde seines Todes leben musste. Ja, ich war dankbar, aber zugleich blitzte ein Unwille in mir auf und ich weinte auch vor Wut, weil ich trotz allem weiterleben musste.
Wir legten viele Werst zurück, liefen durch Gänge, die manchmal so eng und so niedrig waren, dass meine Trage über das Gestein gezogen werden musste, und manchmal so hoch und so breit, dass zehn Heuwagen nebeneinander hätten durchfahren können. Schwer zu sagen, wie lange wir unterwegs waren, denn unter der Erde gab es weder Tag noch Nacht.
Maljen erholte sich schneller als ich und humpelte neben der Trage her. Er war durch den Einsturz des Geheimgangs verletzt worden, aber die Grischa hatten ihn geheilt. Was ich erlitten und durchgemacht hatte, konnten sie jedoch nicht heilen.
Irgendwann hielten wir in einer Höhle voller tropfender Stalaktiten. Ich hörte, dass einer meiner Träger sie »Mund des Wurms« nannte. Nachdem man mich abgesetzt hatte, half Maljen mir vor der Höhlenwand in eine Sitzposition. Selbst bei dieser kleinen Anstrengung wurde mir schwindelig, und als er meine Nase mit dem Ärmel abtupfte, sah ich, dass ich blutete.
»Wie schlimm steht es um mich?«, fragte ich.
»Du hast schon besser ausgesehen«, gab er zu. »Die Pilger haben von einer Grotte namens Weiße Kathedrale geredet. Ich glaube, sie ist unser Ziel.«
»Ihr bringt mich zum Asketen.«
Er sah sich in der Höhle um. »Auf diese Weise ist er nach dem Putsch aus dem Großen Palast entkommen und konnte sich so lange der Verhaftung entziehen.«
»Und so ist er zum Fest des Gewürzgurkenkönigs erschienen und dann wieder
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