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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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etwas zu sagen. Ich seufze und setze mich neben sie. »So«, sage ich und zeige ihr, wie sie die Orange mit dem Fingernagel schälen kann. Ich pelle leuchtend orangefarbene Kringel ab und lasse sie in ihren Schoß fallen, wobei ich die ganze Zeit die Luft anhalte, um den Geruch nicht einzuatmen. Grace sieht mir schweigend zu. Als ich fertig bin, hält sie die geschälte Orange in beiden Händen, als wäre es eine Glaskugel und sie hätte Angst, sie zu zerbrechen.
    Ich gebe ihr einen Stups. »Los, jetzt kannst du sie essen.« Sie starrt sie bloß an und ich seufze erneut und fange an, die Orange nach und nach für sie in Stücke zu teilen. Dabei flüstere ich so freundlich wie möglich: »Weißt du, die anderen wären netter zu dir, wenn du gelegentlich etwas sagen würdest.«
    Sie antwortet nicht. Nicht, dass ich wirklich damit gerechnet hätte. Tante Carol hat Grace in den sechs Jahren und drei Monaten ihres Lebens kein Wort sagen hören – nicht eine einzige Silbe. Carol glaubt, mit Gracies Gehirn sei etwas nicht in Ordnung, aber bisher haben die Ärzte nichts gefunden. »Sie ist strohdoof«, hat Carol erst neulich ungerührt festgestellt, als sie Grace dabei beobachtete, wie sie einen bunten Block in den Händen drehte wie etwas Wunderschönes und Geheimnisvolles, als erwartete sie, dass er sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln würde.
    Ich stehe auf und gehe zum Fenster, weg von Grace und ihren großen, starrenden Augen und ihren dünnen, schnellen Fingern. Sie tut mir leid.
    Marcia, Gracies Mutter, ist tot. Sie hatte ursprünglich immer gesagt, sie wolle keine Kinder. Das ist eine der Kehrseiten des Eingriffs: Ohne die Deliria nervosa ist manchen Leuten die Vorstellung, Eltern zu werden, zuwider. Glücklicherweise gibt es nur selten Fälle ausgeprägter Ablehnung – in denen ein Elternteil unfähig ist, eine normale , pflichtgemäße und verantwortungsvolle Bindung zu seinen Kindern aufzubauen, und sie schließlich ertränkt, ihnen die Luft abdrückt oder sie totschlägt, weil sie weinen.
    Aber die Gutachter entschieden, dass Marcia zwei Kinder bekommen sollte. Damals schien das sinnvoll. Ihre Familie hatte in der Jahresuntersuchung hohe Stabilitätswerte erreicht. Ihr Mann war ein renommierter Wissenschaftler. Sie wohnten in einem riesigen Haus in der Winter Street. Marcia war eine begeisterte Köchin und gab in ihrer Freizeit Klavierunterricht.
    Aber als Marcias Ehemann in den Verdacht geriet, ein Sympathisant zu sein, änderte sich natürlich alles. Marcia und ihre Kinder Jenny und Grace mussten wieder zu Marcias Mutter, meiner Tante Carol, ziehen, und überall, wo sie hingingen, tuschelten die Leute und zeigten mit dem Finger auf sie. Grace erinnert sich daran bestimmt nicht mehr; es würde mich wundern, wenn sie überhaupt irgendwelche Erinnerungen an ihre Eltern hätte.
    Marcias Mann verschwand, bevor der Prozess begann. Wahrscheinlich war das gut so. Es sind meistens Schauprozesse. Sympathisanten werden fast immer hingerichtet. Wenn nicht, bekommen sie dreimal lebenslänglich und werden in die Grüfte gesperrt. Das wusste Marcia natürlich. Tante Carol glaubt, dass Marcias Herz deshalb nur wenige Monate nach dem Verschwinden ihres Ehemanns den Geist aufgegeben hat, als sie an seiner Stelle angeklagt wurde. Einen Tag nachdem ihr die Unterlagen zugestellt wurden, ging sie die Straße entlang und – zack! Herzinfarkt.
    Herzen sind zerbrechlich. Deshalb muss man so vorsichtig damit sein.
    Heute wird ein heißer Tag, das merkt man. Es ist jetzt schon heiß im Zimmer, und als ich das Fenster einen Spaltbreit öffne, um den Orangengeruch rauszulüften, fühlt sich die Luft draußen so dick und schwer an wie eine Zunge. Ich atme den sauberen Geruch von Seetang und feuchtem Holz ein, höre auf die entfernten Schreie der Möwen, die irgendwo hinter den niedrigen grauen Gebäuden über der Bucht ihre endlosen Kreise ziehen. Ein Automotor heult draußen auf. Das Geräusch erschreckt mich und ich zucke zusammen.
    »Nervös wegen deiner Evaluierung?«
    Ich drehe mich um. Tante Carol steht mit gefalteten Händen in der Tür.
    »Nein«, sage ich, obwohl das gelogen ist.
    Sie lächelt kaum wahrnehmbar, nur ein kurzes Zucken. »Keine Sorge, das wird schon. Geh duschen, nachher helfe ich dir mit deinen Haaren. Auf dem Weg können wir deine Antworten noch mal durchgehen.«
    »Okay.« Meine Tante starrt mich weiter an. Ich winde mich innerlich und kralle meine Fingernägel ins Fensterbrett hinter mir. Ich habe es

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