Grischa: Der allzu schlaue Fuchs: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
er, während Sofija ihr Messer tiefer unter seinen Balg schob.
»Weil ich eine Jägerin bin«, antwortete sie schulterzuckend.
Koja stöhnte. »Ich wollte dir doch nur helfen.«
»Es ist immer das Gleiche«, murmelte Sofija. »Einem weinenden Mädchen kann kaum jemand widerstehen.«
Ein weniger gewieftes Geschöpf hätte angesichts seines Blutes, das in den Schnee strömte, wohl um sein Leben gebettelt, aber Koja riss sich zusammen. Er versuchte nachzudenken, obwohl sein schlauer Verstand noch durch Mädesüß benebelt war.
»Dein Bruder …«
»Mein Bruder ist ein Dummkopf, der es kaum erträgt, mit mir in einem Raum zu sein. Aber weil seine Gier größer ist als seine Angst, bleibt er und ertränkt seine Furcht in Schnaps. Und während ihr ihn und seine Flinte anstarrt und von Hexen schwafelt, durchstreife ich die Wälder.«
Konnte das stimmen? Hatte Jurek Abstand gehalten, seine Furcht in Kwass ertränkt und Sofija gemieden? Hatte sie den grauen Wolf zur Strecke gebracht, und hatte Jurek all die Leute in sein Haus eingeladen, um mit ihr nicht allein sein zu müssen? Genau wie Koja hatten auch die Einheimischen Jurek für den großen Jäger gehalten. Sie hatten ihn gelobt und sie hatten Geschichten von ihm hören wollen, die eigentlich nicht die seinen waren. Hatte er seiner Schwester den Kopf des Wolfes geschenkt, um sie nicht in ihrem Stolz zu kränken?
Sofija stieß ihr Messer immer tiefer unter seinen Pelz. Sie brauchte keine klobigen Bogen oder lauten Flinten. Koja wimmerte vor Schmerzen.
»Ja, du bist schlau«, sagte sie nachdenklich, während sie begann, seinen Rücken abzubalgen. »Doch hast du denn nie den Schlitten bemerkt?«
Koja versuchte seine Gedanken zu sammeln. Sofija hatte auf dem Weg zum Witwenheim manchmal einen Schlitten hinter sich hergezogen. Nun fiel ihm ein, dass der Schlitten auch bei ihrer Rückkehr stets schwer beladen gewesen war. Welches Grauen mochte sie unter den Wolldecken versteckt haben?
Koja zerrte an den Fesseln. Er bemühte sich, seine Benommenheit abzuschütteln, um wieder klar denken zu können.
»Es ist immer die gleiche Falle«, sagte sie zärtlich. »Du hast dich nach Gesprächen gesehnt. Der Bär nach Scherzen. Der graue Wolf hat die Musik vermisst. Die Wildschweinbache musste jemandem ihr Herz ausschütten. Die Falle heißt Einsamkeit, und niemand entkommt ihr. Nicht einmal ich selbst.«
»Ich bin ein Zauberfuchs …« keuchte er.
»Dein Pelz ist löcherig und hässlich. Ich werde ihn als Futter für meinen Mantel benutzen. Ich werde ihn über meinem Herzen tragen.«
Koja suchte nach den Worten, die ihn stets gerettet hatten, er suchte nach der Schlauheit, die immer Leitstern und Halt für ihn gewesen war. Doch seine kluge Zunge versagte ihm den Dienst. Er stöhnte, während sein Lebenssaft im Schnee versickerte und den toten Baumstamm tränkte. Und da tat der sterbende und jeder Hoffnung beraubte Koja etwas, das er nie zuvor getan hatte. Er rief um Hilfe, und die hoch oben in ihrer Birke sitzende Nachtigall vernahm seinen Ruf.
Lula kam angeflogen, und als sie sah, was Sofija angerichtet hatte, griff sie diese an und hackte nach ihren Augen. Sofija kreischte und stieß mit ihrem Messer nach dem Vögelchen, aber Lula ließ nicht von ihr ab.
Als Sofija schließlich aus dem Wald stolperte, blind und fast verhungert, waren zwei Tage verstrichen. Ihr Bruder hatte in der Zwischenzeit ein bescheideneres Haus gefunden und eine Arbeit als Holzfäller angenommen, die gut zu ihm passte. Sofijas wirres Gerede von Füchsen und Wölfen verstörte Lew Jureks neue Braut, und so brachte er seine Schwester ohne großes Bedauern zum Witwenheim. Dort nahm man sie auf, weil sie gelegentlich Nahrungsmittel gespendet hatte. Nur hatte sie niemals ein freundliches Wort für die Witwen übrig gehabt und ihnen auch nie Gesellschaft geleistet. Sie hatte es nicht für nötig erachtet, ihre Freundschaft zu gewinnen, und so kam es, dass die Dankbarkeit der alten Frauen rasch dem Unmut darüber wich, sich um Sofija kümmern zu müssen. Also hockte diese in ihrem grausigen Mantel bald ganz allein vor dem Feuer.
Was Koja angeht, so wuchs sein Pelz nie wieder richtig zusammen. Er war vorsichtiger in seinem Umgang mit Menschen und nahm sich sogar vor dem Bauerntölpel Tupolew in Acht. Die anderen Tiere wiederum waren sehr nachsichtig mit Koja. Sie neckten ihn nicht mehr so oft, und wenn sie den Fuchs und Lula besuchten, spotteten sie kein einziges Mal über seinen Pelz, der sich am Hals
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