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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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als wäre ich unsichtbar. Als wüsste er nicht selbst, dass das nicht geht. Es ist auch so schon schwer genug, bei der Sache zu bleiben, es ist ein empfindliches Gleichgewicht. Schon die Erwartung einer Störung bringt es ins Schwanken, und alles ist zu Ende. Ja im Grunde genommen ist die Erwartung das Schlimmere, sie richtet mehr an als die Störung selbst. Die Besuche des Bruders gaben das beste Beispiel. Nicht erst mit seinem Eintreffen, schon mit seiner Ankündigung war Viktor lebhaft und unleugbar anwesend. Aber viel mehr als seine bloße Gegenwart störte sein erklärtes Bemühen um Rücksicht. Bevor man sich beschwerte, entschuldigte er sich schon. Wie mit einem Kranken ging der Bruder mit ihm um. Es ist dein Haus so gut wie meins, erwiderte Schramm: Platz sei hinreichend vorhanden, Pläne habe er weiter keine. Sollte Viktor, wenn er wollte, für Tage bleiben, sollte er ohne weitere Ankündigung, ohne einen ordentlichen Abschied in aller Herrgottsfrühe verschwinden, eine kaum leserliche Notiz hinterlassend, er habe fortgemusst. Er konnte für lange Spaziergänge verschwinden oder den ganzen Tag im Haus verbringen, über Stunden schweigend im Ohrensessel, wenn er in eine seiner Stimmungen verfiel. Hätte man einen Abend lang ausgelassen miteinander erzählt, kein Ende gefunden, säße er tags darauf für Stunden reglos in dem Ohrensessel an der Stirnseite des Raums, brütend über einem klebrigen Gedanken. Ein Fehler, den er mit dem Vater teilte. Groß und kernig war der Bruder gewachsen und sank doch, wenn er in besagtem Sessel Platz nahm, zur Haltung des Vaters zusammen, sosehr er ihn abwehrte, ganz der Vater, wie er gleichsam über sich selbst gebeugt saß, dieser kleine, spitzbäuchige, nicht sehr schöne Mensch.
    Fortwährend hatten sie mit den drohenden Verstimmungen des Vaters gelebt, unter dem Alpdruck seiner Tobsuchtsanfälle, die immer bei unerheblichsten Anlässen auftraten, wegen eines Paars Stiefel, das er nicht fand, einer Pillendose, die nicht an ihrem Ort stand, wegen eines zur Mittagsruhe eintreffenden Anrufs oder einer Verspätung beim Abendbrot.
    Nimm dir ein Beispiel, sagte der Vater zu Viktor, wenn Schramm eine gute Note heimbrachte. Eilig, dabei widerwillig durchblätterte er das Heft, bis er eine rot gemalte Zensur fand, und, indem er seine Unterschrift auf die eigens dafür hingezeichnete Linie krakelte, feststellte: Das haben wir schon in der Grundschule durchgenommen. Schwer, sagte er, wird es nicht gewesen sein!
    Bei Tisch machte der Vater seine Bemerkungen. Wie er futtert, sagte er über Schramm, ein richtiges Mondgesicht hat er schon! Und lachte dazu auf seine meckernde witzige Art, so dass selbst Schramm nicht anders konnte, als mit ihm zu lachen, und trotz missbilligender Blicke weiter in sich hineinlachen musste, als der Vater ohne Überleitung auf den Bruder deutete und halb im Spaß, halb ernsthaft fragte: Wann will er denn nun schwimmen lernen, was macht er denn, wenn er einmal hineinfällt ins Wasser, das möchte ich doch sehen, ob er es dann nicht doch plötzlich kann. So redete er über seine Söhne, als wären sie nicht anwesend oder der Sprache nicht mächtig.
    Die Schüchternheit des Bruders war es, die den Vater, neben Viktors Kurzsichtigkeit, seiner Appetitlosigkeit und seiner Launenhaftigkeit, am meisten schmerzte. So etwas kann sich auswachsen, sagte die Mutter, als ob sie etwas davon verstünde, das möchte ich sehen, erwiderte verlässlich darauf der Vater, und wenn sie mit dem Hinweis auf die Veranlagung zu schlichten suchte, legte er es als Vorwurf gegen sich aus: Von mir, sagte er, hat er es nicht. Der Vater war stolz auf seine guten Augen wie auf ein persönliches Verdienst, und in der Tat hatte er bis zum Schluss keine andere Sehhilfe benötigt als das faltbare Fernglas für die Jagd: in einem Lederetui aufbewahrt, versunken in den Seitentaschen des Wachsmantels, wenn er in den vernebelten Herbstmorgen, ohne das Licht anzuknipsen, durch die Flure, die dämmrigen Stiegen hinabglitt und aufbrach, hinaus über die Sturzäcker, in die von stumpfen Schwaden umsponnenen Wälder. Die Schwachsichtigkeit des Bruders hingegen wuchs sich nicht, wie erhofft, aus, stattdessen verschlimmerte sie sich. Alle Jahre mussten neue Brillengläser angeschafft werden, oftmals häufiger, wenn Viktor sie, aus Übermut oder Zerstreutheit, zerbrach.
    Alle anderen am Tisch hatten von der Brühe rote Gesichter bekommen, nur der Bruder blies aus Vorsicht oder Langeweile so lange, bis

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