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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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länger. Man kann es noch so genau berechnen und verschätzt sich doch. Zu Unterbrechungen käme es von allein. Und er war nicht mehr der Kräftigste. Selbst wenn es ihn packte, wenn er das Werkzeug gar nicht mehr aus der Hand legen wollte und für Momente glaubte, alles könne gelingen, selbst und gerade dann durfte er sich nicht vergessen. Manchmal hörte er es noch, ein Sausen im Ohr, nicht sehr laut. Er war schon einmal unpässlich geworden, es sollte nicht noch einmal passieren. Es war zu lächerlich. Er hatte dreißig Jahre lang gearbeitet, er hatte keinen Tag gefehlt. Das war nur der Anfang, hatte er noch gescherzt, den Becher in die Runde hebend, als es im Lehrerzimmer eine kleine Feierlichkeit zum Anlass gab: mich werdet ihr so schnell nicht los, sagte Schramm, Sie können ja gar nicht ohne, meinte ein anderer.
    Solche hatte es immer gegeben. Doch wenn die Kollegen sich beim Griechen zum Trinken getroffen hatten, war Schramm stets mit dabei gewesen. Beim letzten Mal war er geblieben bis in die Morgenstunden, war wie alles um ihn her immer noch heiterer geworden, zum Schluss so betrunken, dass er die Dinge doppelt sah. Verlieren Sie eigentlich jemals die Fassung, fragte die Referendarin, den Kopf in die Hand gestützt. Eben noch hatte sie in langen atemlosen Sätzen von einem Film erzählt. Die Heldin eine junge Lehrerin; als handelte es sich um einen echten Menschen, erzählte die Referendarin von der erfundenen, für den Beruf völlig ungeeigneten Figur. Mitleid empfinde man beim Zusehen und zugleich Scham. Im ersten Moment Scham, sagte die Referendarin, im nächsten Mitleid, und nie weiß man, was am stärksten ist, Scham, Mitleid oder doch das Glück, nicht in dieser Haut zu stecken.
    Noch weitere Filmszenen erzählte sie nach, im Reden ruhelos nach den Umsitzenden sehend, dass die Perlmutttrapeze an ihren Ohren pendelten und schillerten im Licht der tief gehängten Deckenfunzeln. Es war, in der Art, wie sie es erzählte, unmöglich, das Komische zu empfinden, das Peinliche. Nur aus einer zusehends lustloser werdenden Höflichkeit heraus, dachte Schramm, hörte die Runde, ihn eingeschlossen, ihr noch zu. Er sah sie sitzen, um die unter schmieriger Lackbeschichtung schimmernde Tafel herum, sah die Referendarin ihre Finger beim Reden ineinander verschränken, voneinander lösen. Oft hielt sie die Handflächen wie tastend oder abwehrend vor sich in die Luft. Fiedler, Vollrath, Lutz und Schott, in dieser Anordnung saßen sie neben ihr, ihm gegenüber an der Längsseite der Tafel, das wusste Schramm noch, und dass es Fiedler gewesen war, den im Zuhören Unruhe erfasst hatte. Wie er nach einem beinahe geleerten Bierglas gegriffen hatte, es, bevor er es an die Lippen nahm, mehrmals auf dem Tischholz hin- und her kippen ließ, dass die trübe Flüssigkeit an den Glaswänden im Schwappen schaumige Schlieren zog; endlich das Glas zum Mund führte und den Kopf beim Trinken nach hinten kippte. Sich im Schlucken noch mit dem Handrücken über die Lippen wischte und, da die Erzählung eben wieder bei einem komischen Moment angelangt war, ein kleines wohlwollendes Lachen von sich gab: es war dieses Lachen gewesen, dachte Schramm, dieses Lachen im Verein mit der über den Mund gewischten Hand. Und alles darum Liegende war angezogen worden, aufgesogen in diesem Bild; ein längst in ihm wallendes Missfallen, gestaut und gestockt zum Pfropfen, der tief in seiner Kehle saß. Und mit einem Anklang von Zorn hatte er Fiedler ins Gesicht gesehen und gefragt, was denn so witzig sei. Die Umsitzenden rückten näher und neigten ihre Köpfe über den Tisch. Angenehm war das natürlich nicht. Und Sie, fragte die Referendarin, indem sie ihn von unten, von der Seite her ansah. Verlieren Sie eigentlich jemals die Fassung. Schramm hieb mit der Klinge des Werkzeugs gegen die Pflastersteine, dass es Funken gab. Dabei konnte er mit sich zufrieden sein. Bald hatte er die erste Reihe beendet und die erste ist die schwierigste. Fast war er angelangt vor dem schattigen Winkel, wo auf dem kleinen Stück ebener Erde vor der steil ansteigenden Grasböschung die Clematis wuchs, aus dem Quadrat zwischen Rasen und Beton herauskletterte, ihre Stängel um die Drähte schlang, die Schramm gespannt hatte für sie. Die Waldrebe sucht Halt und findet ihn, rankt um jeden sich bietenden Zweig. Noch aus vorjährigen Trieben blühen ihre Trugdolden, nachtviolett und filzig wachsen sie ins Licht.
    Klassenführung ist kein Hexenwerk, hatte er zur Referendarin

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