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Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Titel: Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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begegnen und der alten Zeiten gedenken.«
    »Sehr alten Zeiten«, sagte ich. »Du magst die Herrin dieses Sees sein und so alt wie das Land. Für mich sind das nur Geschichten, an die sich selbst die Ältesten unseres Volkes nicht mehr erinnern können. Heute haben wir eine andere Heimat, und die Menschen sind unsere Verbündeten. Wir kämpfen Seite an Seite, denn Leuchmadans Finstervölker bedrohen uns alle. Heute sind sie es, die uns die neue Heimat rauben wollen, wenn wir sie nicht aufhalten. Das ist keine gute Zeit, um an die Feindschaften und die Bündnisse von einst zu denken.«
    »Ganz im Gegenteil«, sagte die Dame vom See. »Jetzt ist eine ausgezeichnete Zeit, um daran zu denken, dass ein Bündnis mit den Menschen euch die alte Heimat nicht zurückbringen wird. Es ist die allerbeste Zeit, um nicht nur die Gegenwart im Blick zu haben, sondern darüber hinauszudenken.«
    »Du willst, dass ich das Bündnis mit den Menschen verrate?«, fragte ich. »Dass ich die spezielle Mission scheitern lasse, zu der man mich gerufen hat? Bin ich deswegen hier?«
    »Ganz im Gegenteil«, wiederholte die Dame. »Ich will dir helfen, diese Mission zu bestehen. Denn ohne meine Hilfe wird euer Unterfangen scheitern, und Leuchmadan wird triumphieren.
    Aber wenn ich dir helfe und dir den Weg durch die letzte Tür weise, und wenn du genommen hast, was du dort finden wirst, dann will ich, dass du es nicht den Menschen gibst, diesen Räubern, den kalten, hartherzigen Feinden unserer Völker. Ich will, dass du mir diesen Schatz bringst. Wir können mehr damit tun, als unser armseliges Exil zu retten. Wir können das Land zurückverlangen, das einstmals uns gehörte! Halblinge könnten wieder an den Ufern meines Sees wandeln, und die Menschen müssten erkennen, dass unsere Wege die richtigen sind.«
    Das Wasser ist ein kaltes Element, und es verzehrt sich nach einer Wärme, die es selbst nicht aufnehmen kann. Es weckt in anderen den Hunger nach Wärme und bleibt selbst kalt dabei.
    Ob ich das damals schon so wortgewandt gedacht habe? Ich weiß es nicht. Aber ich spürte eine Kälte hinter den Worten der Wasserfrau, die nicht zu ihren feinen Versprechungen passte, als dränge weit mehr von ihrer eisigen klaren Gestalt in ihre Stimme, als sie es beabsichtigte.
    Außerdem wusste ich vielleicht nicht viel von der Überlieferung meines Volkes, aber ich hätte schon dümmer sein müssen, als ich war, um nicht die Geschichten zu kennen von den Frauen, die in Teichen lebten, und wohin es führte, wenn man ihren Lockungen nachgab.
    Ich antwortete also vorsichtig: »Und was für eine Hilfe bietest du mir an?«
    Ihr Wasserleib wies zum Ende des Sees und folgte mir, als ich dort hinging. Dort, am Zufluss des Gewässers, einem glucksenden kleinen Bach, und dicht an der Nebelgrenze zum umliegenden Wald – so dicht, dass dunstige Arme auf dem Boden darum herumkrochen, graue, halbwirkliche Tropfen von den Zweigen darüberrannen und ein nebelgewandeter Stamm zum Anfassen nah dabeistand wie ein stummer Wächter –, da lag am Ufer ein schmales Etui aus dunklem Holz. Ich klappte es auf und fand darin einen silbernen Schlüssel mit schwerem Schaft auf einem Kissen von schwarzem Samt.
    »Der Schlüssel zur letzten Tür«, sagte die Wasserfrau. »Du wirst wissen, wann die Zeit gekommen ist, ihn zu gebrauchen. Bis dahin hüte ihn gut. Wird das Siegel in seinem Inneren zur Unzeit gebrochen, ist alles verloren.«
    Ihre Stimme klang fern, und ich sah mich um. Der Wasserleib war fort. Der See schien um die Hälfte geschrumpft, er glitzerte nicht mehr im Sonnenlicht. Nur ein brauner Tümpel war zurückgeblieben, von dessen sumpfigen Ufern ein paar träge Molche misstrauisch mein Tun verfolgten.
    Da wusste ich, ich hatte die Herrin vom See-der-gewesen-war gesehen, eine bloße Erinnerung. Ich fragte mich, wo sie heute lebte. Sie hatte von Exil geredet und davon, wie wir dasselbe Schicksal teilten. Die Halblinge lebten in der Verbannung in den Elfenwäldern. Wohin mochte es die Herrin des Sees verschlagen haben? Wo war der Ort, von dem aus ihre Magie mir ihre Botschaft hatte zukommen lassen?
    Der Nebel im Wald schmolz zu einem feinen Nieselregen, der in nassen Wolken über den Boden stäubte und nur langsam herabsank. Rings um mich herum tropfte und plätscherte es, was mir die unnatürliche Stille davor umso mehr zu Bewusstsein brachte.
    Ich wandte mich von See und Lichtung ab und beschloss, zurück zu meinen Gefährten zu gehen, die ich in jenem Gasthaus

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