Gruber Geht
vergessen und viel zu früh stammelte, was er ausgelesen hat,
Kurier
,
Standard
,
Krone
,
FA
Z
,
Financial Times
, sie lächelt ihn jedes Mal müde, aber dankbar an. Er kennt ihr Gesicht von irgendwo her, sie hat wuschelige, leuchtend dunkelblonde Haare, Ringe unter den Augen, einen breiten, vollen Mund, woher kennt er ihr Gesicht? Gruber denkt darüber nach, sie sieht interessant aus, aber sie ist nicht schön genug, dass er sich länger mit der Frage beschäftigen will, wo er sie schon einmal gesehen hat. Egal. Wenn’s wichtig wäre, wüsste er es. Sex hatte er nie mit ihr, Gruber ist sich (der Schmerz, er ist noch da, und er wacht jetzt auf) relativ sicher. Nicht hundertprozentig, aber fast. Als der Flieger seine Flughöhe erreicht hat, steckt sich Gruber wieder die Stöpsel in die Ohren, hört noch zwei, drei Mal «Red River Shore» und scrollt dann (der Schmerz regt und räkelt sich unter Grubers Bauchdecke, aber er schwächelt, vielleicht verschwindet er wieder, wenn Gruber ihn ignoriert) vor auf elf, die Orgel. Die Orgel ist bitte ein Wahnsinn. Er würde gerne der Herzog eine SM S wegen dieser Orgel schicken, aber erstens ist er in der Luft, zweitens würde die Herzog den Titel zu persönlich nehmen, man kann der Herzog keinen Song empfehlen, der «Dreamin of You» heißt, ohne dass sie das als Signal auffasst, sich Gruber wieder einmal ein bisschen an den Hals zu werfen. Die Herzog hat (Gruber nimmt jetzt doch lieber eine 400 er Seractil und spült sie mit einem Schluck Wasser hinunter) die merkwürdige Angewohnheit, sich temporär in Gruber zu verlieben, wenn Gruber sie mit irgendwas rührt, und die Orgel wäre definitiv geeignet, die Herzog zu rühren. Diese Möglichkeit trachtet Gruber zwar nicht grundsätzlich zu vermeiden, aber doch für kargere Zeiten zu reservieren.
Die Dylan-Manie, die passt nicht zu Gruber. Gruber sieht nicht aus wie der typische Dylan-Fan und er benimmt sich nicht wie der typische Dylan-Fan. Gruber weiß es, und er redet deshalb eher gar nicht darüber. Seine Kollegen und Geschäftspartner gehen heimlich in Puffs oder in Swingerclubs oder masturbieren bei Testfahrten in Autos, die sie sich nicht leisten können. Gruber hört heimlich Dylan. Philipp weiß es, und Kathi natürlich, und er spricht mit dem Bachmeier darüber und mit der Herzog, die eine der wenigen Frauen ist, mit der Gruber überhaupt spricht, also im Sinne von: reden, nicht aufreißen. Was vielleicht damit zu tun hat, dass die Herzog eine der wenigen Frauen ist, die überhaupt über Musik reden. Bloß kommt es Gruber mitunter vor, als wolle sie Dylan vor einem wie ihm beschützen, vollkommen bescheuert, sie nervt, sie macht ihm das kaputt in ihrer überkritischen Art, denn Gruber findet keineswegs, dass man leben und denken und daherkommen muss wie Dylan, um Dylans Musik mögen zu dürfen, also überhaupt nicht. Kompletter Blödsinn, bitte. Die Herzog findet das schon, obwohl ihr selbst dafür jegliche Basis fehlt, absolut jede; weder lebt noch denkt und zum Glück sieht sie auch nicht aus wie Dylan. Die Herzog lebt unter einer Klimt-Zeichnung, sie hängt über ihrem Sofa und hing einst im Vorraum der Gästetoilette ihrer Eltern, und der Klimt ist eins der wertloseren Dinge in ihrem Dasein, jetzt mal abgesehen vom ideellen Wert. Der Kühlschrank der Herzog ist vermutlich teurer als die Klimt-Zeichnung. So gesehen ist es ein permanenter Fehler, die Herzog nicht anzubaggern, eigentlich sollte er die Herzog bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit aufs Standesamt schleppen, lebensversicherungstechnisch. Aber auf keinen Fall besteht auch nur der Furz eines Anlasses, sich von der Herzog wegen Dylan Vorhaltungen machen zu lassen.
In Zürich kommt Gruber am nervigen Gate E an, von dem man mit der einzigen Schweizer U-Bahn zur Ankunftshalle fahren muss. Dort zieht er sich mit den wieder einmal wohlüberlegt – Gruber fühlt eine tiefe, warme Selbstzufriedenheit in sich aufsteigen – mitgenommenen Franken-Münzen ein Ticket, setzt sich in den Zug und schreibt, während er durch die Zürcher Vorstadt fährt, sofort vom iPhone eine SM S an Carmen: «zürich. diese scheißstadt schon wieder. eben hat mich einer wegen dem iPod angepflaumt. so typisch.» Das ist gelogen. Es ist meistens gelogen, was Gruber Carmen aus Zürich oder München oder Mailand oder Manchester oder Darmstadt oder Sofia oder Graz oder Frankfurt am Main simst, aber er hat da diese schöne Tradition mit ihr. Warum jetzt damit aufhören. Carmen mag
Weitere Kostenlose Bücher