Gruber Geht
mittelgroße Städte, Gruber hasst mittelgroße Städte, was insofern peinigend ist, als Carmen ständig in Metropolen zu tun hat und Gruber permanent in mittelgroßen Städten. Carmen simst, wie immer, zurück, dass er ein Idiot ist, dass er endlich die Feldberger anrufen soll, die geht mit ihm in ein wirklich gutes Restaurant zum Essen oder in ein lässiges Lokal etwas trinken oder bekocht ihn und stellt ihm lässige, interessante Leute vor, auf jeden Fall findet er mit der Feldberger zuverlässig einen Platz in Zürich, an dem Zürich wie eine Stadt aussieht und nicht wie ein Millionendorf, herzliche Grüße aus Bejing. Wie immer ignoriert Gruber das, denn darum geht es nicht. Darum geht es doch nicht! Es geht darum, dass man mittelgroße Städte aus Prinzip hassen muss, aus Prinzip, weil einen mittelgroße Städte unablässig spüren lassen, dass man nicht in einer großen, einer echten Stadt und folglich ein kompletter Versager ist. Dass man es nicht geschafft hat, dass D U es nicht geschafft hast. An jeder herausgeputzten Ecke lassen sie einen das spüren. Vor jedem scheiß Provinz-Designerladen spürst du es, in jedem zweitklassigen Spießerrestaurant, das einen auf kosmopolitisch macht. Scheiß Zürich. Carmen ist die einzige Person auf der Welt, die in so einer Stadt Freunde findet. Gruber hat in so einer Stadt nichts als Feinde. Geschäftspartner. Taxifahrer. Hotelportiers, Designerladenverkäuferinnen. Huren, Chefs des Maisons, alle feindlich. Er wird Carmen heute Abend aus der Kronenhalle eine Mail schicken, die pfeifen wird, weil es dort wieder recht scheiße sein wird. Scheiße wie immer, in herrlichem Ambiente, aber ungeheuer scheiße.
Gruber stellt «Dreamin of You» auf repeat und überlegt, ob er Denise anrufen soll. Vielleicht würde es sie ja versöhnen, von ihm aus dem Schlaf gerissen zu werden. Da muss es einer doch ernst meinen, wenn er dich schon vor neun Uhr früh sprechen will. Oder wenn er übersieht, wie früh es noch ist, weil er dich so vermisst. Das wäre doch einmal ein schönes Signal. Das müsste eine wie die doch gut finden. Andererseits wird Gruber durch diesen Gedankengang selber wieder bewusst, wie früh es noch ist, und dass er so früh überhaupt nicht spricht, so früh spricht er aus Prinzip mit niemandem, außer es dient dem Geschäft. Selbst wenn das jetzt seine Chancen auf einen netten Fick erheblich schmälert: nein. Außerdem kann er Denise diesmal nicht mit zu diesem Essen in die Kronenhalle nehmen, er muss mit diesen Trotteln hin, da kann sie nicht dazu, trotz ihres Arsches. Er müsste ihr (Gruber legt seine Hand auf seinen Bauch, drückt vorsichtig, fester, gut, da ist nichts mehr) auf eine nette, charmante Weise klarmachen, dass sie erst später erwünscht ist, dann aber außerordentlich, und dass es viel netter für sie wäre, wenn sie auf das mittelmäßige, ja miese Essen in der Kronenhalle verzichtet und stattdessen ins Kino geht oder mit einer Freundin was trinkt und ihn erst später in der Bar trifft, die Freundin kann sie ja mitbringen. So müsste das sein, Gruber weiß allerdings genau, dass ihm die charakterlichen Voraussetzungen, die ihm erfolgreiches Schönreden von sichtlich ungünstigen Situationen ermöglichen würden, nicht gegeben sind. Er würde es versauen, so oder so, also kann er es genauso gut später versauen, wenn er fitter ist und das erste Scheißmeeting hinter sich gebracht hat. Überhaupt Dööönis, so toll bist du auch wieder nicht. Guter Arsch, aber sonst, Dööönis, musst du gar nicht glauben, dass du so toll bist.
Am Bahnhof steigt Gruber aus, geht in die lichte Halle, zieht sich ein paar hundert Franken aus dem Automaten, kauft sich die
Neue Zürcher Zeitung
, den
Blick
und
G
Q
, scharfe Kaugummis und Zigaretten und zündet sich noch am Kiosk eine an. Gruber raucht nicht. Gruber raucht nur dann und wann einmal eine nach Steuererklärungen, nach Umzügen, nach dem Sex, nach dem Essen, nach Flügen, nach schwierigen Besprechungen, wenn es sehr kalt ist, wenn es sehr heiß ist, wenn ungeöffnete Briefe in seiner Manteltasche knistern. Er raucht nur, wenn es die Situation erfordert, es geht dabei ausschließlich um die Situation, nicht um die Zigarette, nicht um etwas wie Sucht. Die Zigarette ist der Situation geschuldet, man muss Situationen ernst nehmen, muss sie mit Respekt behandeln, sonst wenden sie sich gegen dich. Man muss rauchen, wenn es die Situation erfordert; und das ist jetzt der Fall, er beruhigt die Situation und die
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