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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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jemand zu ihrer Rettung käme, dass sich der Bug eines Schiffs durch den Nebel schöbe oder ihr von oben ein Seil zugeworfen würde – dass irgend etwas geschähe, was es ihr ersparte, noch einmal in dieses eiskalte Wasser zu gehen. Das Komische war, dass sie immer gern geschwommen war – in der Schule hatte sie an Schwimmwettkämpfen teilgenommen und so viel trainiert, dass ihr Haar im letzten Schuljahr praktisch gar nicht mehr trocken geworden war –, doch als sie jetzt von ihrem Sims kletterte und, die Kühlbox an die Brust gedrückt, ins Wasser watete, hasste sie das Schwimmen mehr als alles in der Welt. Sogleich fror sie wieder bis auf die Knochen und ruderte wie wild mit den Beinen, um etwas warm zu werden, und dann hatte sie die Brandung hinter sich gelassen und schwamm.
    Der Alptraum begann aufs neue, doch diesmal war es anders, denn sie war gerettet, sie hatte sich gerettet, und sie blieb nah an der Küste, zitternd, ja, erschöpft und durstig, aber nicht mehr in panischer Angst. Hier gab es keine Haie, nicht in der Nähe der Insel, wo es viele Seelöwen gab. Ganze Armeen bellten auf den Felsen und verströmten einen schwefligen Gestank nach Urin und Fäkalien. Das Meer war jetzt ruhiger, viel ruhiger, beinahe sanft, und von Zeit zu Zeit versuchte sie, sich auf dem Rücken treiben zu lassen, wobei sie den Oberkörper auf die Kühlbox legte und diese mit den Ellbogen festhielt, doch immer wieder musste sie sich umdrehen und sich so weit wie möglich auf die Box schieben, um der Kälte zu entkommen. Nebel lag über dem Meer. Große Seetangteppiche aus braunen Stielen und gelblichen Blättern trieben vorbei. Winzige Fische schossen wie Nadeln durch das Wasser und verschwanden.
    Im Verlauf des Morgens weitete sich der Himmel über ihr. Unzählige Vögel verschwanden im Nebel und kehrten im Gleitflug zurück wie Geister. Oberhalb der Guanoflecken, der Büsche und Blumen, die so hoch oben wuchsen, dass sie wie in die Luft gepflanzt schienen, wirkten die Klippen wie enthauptet. Sie ließ sich von der Strömung treiben, zwang sich hin und wieder, mit den Beinen zu paddeln, um auf Kurs zu bleiben, und sagte sich, sie werde gleich auf ein ankerndes Boot oder einen Strand stoßen, der den Endpunkt einer Schlucht bildete, durch die sie ins Innere der Insel gelangen könnte. Sie wusste nicht, welche Strecke sie zurückgelegt hatte oder wie lange sie bereits im Wasser war. Die Kälte zehrte an ihr, machte sie müde und erschöpfte ihre Willenskraft. Jede von Seelöwen wimmelnde Ansammlung von Felsen, jede schwarze Felswand glich der anderen so sehr, dass sie dachte, sie habe die Insel bereits zweimal umrundet. Doch sie schwamm weiter, wie sie es getan hatte, als die Beverly B. vor einem Tag und einer Nacht untergegangen war, denn es war das einzige, was sie tun konnte.
    Es musste gegen Mittag sein, und die Sonne war noch immer irgendwo im Nebel verborgen, als sie schließlich fand, was sie suchte. Oder vielmehr: sie wusste gar nicht, was sie eigentlich gesucht hatte, bevor es in einer Bucht auftauchte, die kein bisschen anders als die anderen aussah. Eine verkrustete Leiter, so rostig, dass sie die Farbe der an den Felsen darunter klebenden Seesterne hatte, schien über die Wasseroberfläche auf sie zuzugleiten, und als sie sie erreicht hatte, ließ sie die Kühlbox los und zog sich Sprosse für Sprosse aus dem sich sanft lösenden Griff des Wassers.
    Die Welt hörte auf zu schaukeln. Das Meer blieb unter ihr zurück. Ein Pfad führte steil bergauf, wo der Nebel in Fetzen zerfiel und sich schließlich auflöste, bis er ganz verschwunden war. Oberhalb von ihr, von der Sonne beschienen und umgeben von niedrigem, mit gelben Blüten gesprenkeltem Buschwerk, das den Hang wie Bartwuchs bedeckte, stand eine Hütte. Nein, es waren zwei Hütten, drei, vier, aufgereiht am Steilhang, als wären sie aus dem Fels gewachsen. Die Fenster der nächstgelegenen – sie hatte ein Flachdach und bestand aus grau verwitterten Brettern – reflektierten das Licht der Sonne und leuchteten wie die einer Kathedrale. Und daneben, wo das Fallrohr der Regenrinne war, stand ein Fass, eine große Holztonne, die den Regen auffing.
    In diesem Augenblick war sie nur noch ein Tier, nicht mehr, und ihre Zielstrebigkeit war die eines Tiers. In ihrem Geist war kein Platz für irgend etwas anderes als dieses Fass und seinen Inhalt, und sie spürte weder die kleinen, scharfkantigen Steine, die sich in ihre Fußsohlen bohrten, noch das Gewicht der Sonne, das

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