Grünes Gift
zu.
Während sich die Vorlesung hinzog, hatte er das Gefühl, einen steifen Hals zu bekommen. Er versuchte, die verspannten Muskeln zu massieren, doch auch das brachte keine Linderung. Selbst das Revers seiner Jacke schien die Schmerzen noch zu verschlimmern. Plötzlich mußte er an das bleiartige Objekt in seiner Tasche denken und fragte sich, ob es seine Beschwerden womöglich noch verstärkte. Er nahm es heraus und stellte es vor sich auf das Pult. Es sah wirklich eigenartig aus, wie es da auf seinen Aufzeichnungen stand. Seine perfekte, runde Form und seine außerordentliche Symmetrie legten die Vermutung nahe, daß es sich um ein bearbeitetes Stück handelte. Vielleicht war es ein futuristischer Briefbeschwerer, doch da ihm das viel zu alltäglich schien, verwarf er den Gedanken wieder. Er spielte vage mit dem Gedanken, seinen Fund in der geologischen Fakultät untersuchen zu lassen; vielleicht war das Objekt ja das Resultat eines natürlichen Prozesses, etwa eine Art Achatmandel. Während er über das Gebilde nachdachte, betrachtete er die winzige Wunde an der Spitze seines Zeigefingers. Zu sehen war ein von ein paar Millimetern blasser, bläulicher Haut umgebender roter Punkt. Um den bläulichen Kreis herum hatte sich ein etwa zwei Millimeter breiter roter Kranz gebildet. Wenn er die Stelle berührte, tat sie ein bißchen weh. Nicht unähnlich dem Gefühl beim Blutabnehmen, wenn der Arzt mit einer dieser seltsamen kleinen Lanzetten einen in die Fingerkuppe piekste.
Ein Schüttelfrostanfall riß Beau aus seinen Gedanken. Auf den Schüttelfrost folgte ein langanhaltender Hustenanfall. Als er schließlich zum Luftholen kam, sah er ein, daß es wohl sinnlos war, weiter in der Vorlesung zu bleiben. Er bekam sowieso nichts mehr mit, außerdem störte er seine Kommilitionen und den Professor.
Er packte seine Unterlagen zusammen, steckte die vermeintliche Miniskulptur wieder ein und stand auf. Unzählige Male um Entschuldigung bittend, drängte er sich hindurch. Die Sitzreihen standen so eng beieinander, daß er mit seinem Abgang für ziemliches Aufsehen sorgte. Einem der Studenten fegte er sogar die Aufzeichnungen vom Tisch, woraufhin jede Menge Blätter in Richtung Rednerpult flatterten. Als er endlich den Gang erreichte, sah er, daß der Professor seine Augen abschirmte, um zu sehen, wer der Unruhestifter war. Ihn würde er wohl besser nicht um ein Empfehlungsschreiben bitten.
Sowohl physisch als auch psychisch erschöpft, stieg Cassy am Ende des Schultags die Haupttreppe der High School hinab und verließ das Gebäude, vor dem sich eine hufeisenförmige Auffahrt befand. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie lieber an der Grundschule als an der High School unterrichtete. High-School-Schüler waren einfach zu egozentrisch und ständig bemüht, herauszufinden, wie weit sie gehen konnten. Einige Schüler waren in ihren Augen regelrecht gemein. Dann schon lieber unschuldige, begeisterungsfähige Drittklässler unterrichten, dachte Cassy.
Die Nachmittagssonne schien ihr warm ins Gesicht. Um besser sehen zu können, schirmte sie mit der Hand ihre Augen ab und schaute suchend über die zahlreichen in der Auffahrt wartenden Autos. Sie hielt nach Beaus Toyota Ausschau. Er bestand darauf, sie jeden Nachmittag abzuholen und erwartete sie normalerweise bereits. Doch heute war er offenbar nicht gekommen.
Während Cassy sich nach einem Sitzplatz umsah, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht. Ganz in ihrer Nähe stand Jonathan Seilers, der Junge aus Mrs. Edelmanns Englischklasse. Cassy ging zu ihm, um hallo zu sagen.
»Oh, hi«, stammelte Jonathan und sah sich nervös um. Er hoffte, daß ihn keiner von seinen Klassenkameraden sah. Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Es war nämlich so, daß er Cassy für die bestaussehendste Lehrerin hielt, die er je gehabt hatte, und genau das hatte er Tim nach der Englischstunde erzählt.
»Danke, daß du heute morgen das Eis gebrochen hast«, sagte Cassy. »Du warst mir wirklich eine große Hilfe. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, auf einer Beerdigung zu sein - meiner eigenen, versteht sich.«
»Zum Glück hatte ich gerade nachgesehen, was ich in meinem Laptop über Faulkner gespeichert hatte.«
»Ich fand es mutig, wie du die Situation gemeistert hast«, fuhr Cassy fort. »Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Ohne dich wäre die Diskussion vielleicht nie in Gang gekommen. Ich hatte Angst, daß keiner den Mund aufmacht.«
»Meine Freunde können manchmal ganz schön
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