Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
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I ch erinnere mich noch sehr gut an den Tag, oder besser den Nachmittag, bevor alles begann.
Ich war seit einer Viertelstunde in meiner Anwaltskanzlei und hatte nicht die geringste Lust zu arbeiten. Die elektronische Post und die Briefe waren durchgesehen, ein paar lose herumliegende Blätter aufgeräumt, zwei nutzlose Telefonate geführt. Kurz, ich hatte alle Vorwände erschöpft und mir deshalb eine Zigarette angezündet.
Jetzt genießt du erst mal in Ruhe deine Zigarette, dann fängst du an, dachte ich.
Bis die Zigarette zu Ende geraucht war, würde mir schon was Neues einfallen. Vielleicht würde ich noch mal aus dem Haus gehen, um das Buch abzuholen, das ich vor Wochen bei der Feltrinelli-Buchhandlung bestellt und beinahe vergessen hatte.
Während ich noch rauchte, klingelte das Telefon. Es war die interne Leitung, sprich, meine Sekretärin aus dem Vorzimmer.
Da war ein Herr, er war ohne Termin gekommen, es ging um etwas Dringendes.
Die meisten kommen ohne Termin. Zum Strafverteidiger geht man nur, wenn man ernste und dringende Probleme hat. Oder zu haben glaubt, was auf dasselbe hinausläuft.
In meiner Kanzlei funktioniert es jedenfalls so: Meine Sekretärin ruft mich in Gegenwart des Herrn oder der Dame an, die das dringende Problem haben. Wenn ich beschäftigt bin – beispielsweise mit einem anderen Klienten – lasse ich warten, bis ich fertig bin.
Wenn ich nicht beschäftigt bin, wie an diesem Nachmittag, lasse ich trotzdem warten.
In dieser Kanzlei wird gearbeitet, dass das klar ist. Ich empfange Sie überhaupt nur deshalb, weil es um etwas Dringendes geht.
Ich bat Maria Teresa dem Herrn zu sagen, dass ich ihn in zehn Minuten empfangen würde, aber nur wenig Zeit hätte, da ich danach zu einer wichtigen Besprechung müsse.
Anwälte haben häufig wichtige Besprechungen – denken die Leute.
Zehn Minuten später kam der Mann herein. Er hatte lange, schwarze Haare, einen langen, schwarzen Bart und weit aufgerissene Augen. Er setzte sich, legte die Unterarme auf meinen Schreibtisch und beugte sich zu mir vor.
Ich machte mich schon darauf gefasst, gleich etwas zu hören wie: »Ich habe gerade meine Frau und ihre Mutter umgebracht. Sie liegen unten im Kofferraum meines Wagens. Ein Glück, dass es ein Kombi ist. Was machen wir jetzt , Avvocato?«
Aber es kam anders. Der Mann hatte einen Camper, in dem er Würstchen und Hamburger briet. Die Inspektoren vom Gesundheitsamt hatten diesen Wagen beschlagnahmt, weil die hygienischen Zustände darin ungefähr denen der Abwasserkanäle von Benares entsprachen.
Nun wollte der Bärtige seinen Camper wiederhaben. Er wisse, dass ich ein guter Anwalt sei, das habe ihm ein Freund gesagt, der auch mein Klient war. Mit einem widerlichen, komplizenhaften Grinsen nannte er den Namen eines Drogendealers, für den ich vor Gericht eine schändlich niedrige Strafe ausgehandelt hatte.
Der Vorschuss, den ich daraufhin von ihm verlangte, war horrend, doch er zog seelenruhig ein Bündel zusammengerollter Banknoten aus der Hosentasche, alles Fünfziger und Hunderter.
Bitte ohne Majonäseflecken, dachte ich resigniert.
Er zählte mit Daumen und Zeigefinger die verlangte Summe ab und legte mir das Beschlagnahmeprotokoll und die restlichen Papiere auf den Tisch. Die Quittung können Sie sich sparen, Avvocato, was soll ich damit? Wieder das verschwörerische Grinsen. Klar doch, wir Steuerhinterzieher halten zusammen.
Vor Jahren hatte mir meine Arbeit einmal ziemlich gut gefallen. Jetzt verursachte sie mir nur noch einen latenten Brechreiz. Wenn ich mit Typen wie diesem Würstchenverkäufer zu tun hatte, verstärkte sich der Brechreiz.
Ich überlegte mir, dass ich es eigentlich verdient hätte, seine Würstchen zu Abend zu essen und danach mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Dort würde dann schon Doktor Carrassi auf mich warten.
Doktor Carrassi war Oberarzt der Notaufnahme und hatte unlängst eine Einundzwanzigjährige an Blinddarmentzündung sterben lassen, weil er auf Regelbeschwerden getippt hatte.
Sein Anwalt – ich – hatte auf Freispruch plädiert und diesen auch erwirkt, ohne dass der gute Mann auch nur einen Arbeitstag oder eine Lira Lohn verlor. Es war nicht schwierig gewesen. Der Staatsanwalt war ein Idiot und der als Nebenkläger auftretende Anwalt ein hoffnungsloser Analphabet.
Als Carrassi freigesprochen wurde, umarmte er mich. Er hatte Mundgeruch, schwitzte vor Aufregung und war überzeugt, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren
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