Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
empfehlen. Ich rufe dich in den nächsten Tagen noch mal an, und dann gibst du mir eine Adresse.
Weg war ich. Den Aufzug nahm ich selbstverständlich nicht.
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M ein Hausarzt hatte schließlich eingewilligt, mir ein Schlafmittel verschrieben, und mit diesen Pillen war es wenigstens eine Zeit lang besser gegangen.
Stimmungsmäßig war ich immer noch auf dem Nullpunkt, aber wenigstens wandelte ich jetzt nicht mehr wie ein verstörtes Gespenst durch die Gegend.
Meine beruflichen Leistungen bewegten sich allerdings im roten Bereich, und als Anwalt war nicht mehr der geringste Verlass auf mich. Es gab Menschen, deren Freiheit von meiner Arbeit und Konzentration abhing. Sie wären vermutlich höchst erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass ich meine Nachmittage damit zubrachte, zerstreut in ihren Akten zu blättern, dass sie selbst und der Inhalt dieser Akten mir vollkommen egal waren, dass ich völlig unvorbereitet in die Verhandlungen ging, dass der Ausgang der Prozesse praktisch dem Zufall überlassen war, mithin, dass ihr Schicksal in den Händen eines verantwortungslosen, psychisch gestörten Menschen lag.
Wenn ich Klienten in meinem Büro empfangen musste, wurde die Situation geradezu surreal.
Die Leute redeten, ich registrierte kein einziges Wort, nickte aber beständig, was ihnen wiederum Sicherheit gab und sie unentwegt weiterreden ließ. Am Ende schüttelte ich ihnen mit einem verständnisvollen Lächeln die Hand.
Dass der Anwalt ihnen gestattete, Dampf abzulassen, ohne sie dabei zu unterbrechen, schien ihnen zu gefallen, zumal sie sich mit ihren Problemen und Bedürfnissen von mir verstanden fühlten.
Ich sei wirklich ein anständiger Mensch, war der Kommentar, den eine Rentnerin meiner Sekretärin gegenüber abgab – sie wollte einen Nachbarn verklagen, weil er ihr obszöne Botschaften in den Briefkasten warf. Sie fand, ich wirke gar nicht wie ein Anwalt. Recht hatte sie.
Die Klienten waren zufrieden, und ich hatte bestenfalls eine vage Vorstellung von ihren Problemen. Gemeinsam steuerten wir unserem Untergang entgegen.
In dieser Phase – ich hatte zur Abwechslung einmal ein paar Nächte geschlafen – gesellte sich ein neuer Faktor hinzu. Ich bekam Weinanfälle. Anfänglich passierte es mir nur zu Hause, abends, wenn ich von der Arbeit zurückkam, oder morgens beim Aufstehen. Dann auch außer Haus. Ich lief auf der Straße, meine Gedanken streiften ziellos umher, und plötzlich kamen mir die Tränen. Anfänglich gelang es mir noch, die Situation irgendwie unter Kontrolle zu halten, vor allem in der Öffentlichkeit, aber mit jedem Mal wurde es schwieriger. Ich konzentrierte mich auf meine Schuhe oder die Nummernschilder der Autos, vermied es jedoch, den anderen Passanten in die Augen zu sehen, die sonst – dessen war ich mir sicher – sofort gemerkt hätten, was mit mir los war.
Am Ende passierte es mir sogar in meiner Kanzlei. Es war an einem Nachmittag, ich unterhielt mich mit meiner Sekretärin über irgendetwas, als mir plötzlich die Tränen kamen und ich einen schmerzhaften Kloß im Hals spürte.
Ich begann, verzweifelt auf einen kleinen Wasserfleck an der Wand zu starren, und kommunizierte nur noch durch Kopfnicken, in der panischen Angst, Maria Teresa könne etwas mitbekommen.
Das tat sie auch tatsächlich, denn plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ja noch ein paar Fotokopien machen musste, woraufhin sie sich diskret zurückzog.
Nur wenige Sekunden später begann ich hemmungslos zu weinen und hörte auch nicht so schnell wieder auf.
An diesem Punkt hatte ich wenig Lust, darauf zu warten, dass sich das Phänomen wiederholte, etwa während einer Gerichtsverhandlung.
Noch am selben Tag rief ich meinen Arzt an und ließ mir die Nummer des Spezialisten geben.
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D er Spezialist war der reinste Hüne, groß und vierschrötig, mit Vollbart und Händen wie Schaufeln. Ich malte mir aus, wie er einen tobenden Irren mit Ohrfeigen ruhig stellte und ihm eine Zwangsjacke überzog.
Dafür, dass er aussah wie Rübezahl, war er erstaunlich freundlich. Er ließ mich erzählen und nickte dazu. Das beruhigte mich ein wenig, bis mir einfiel, dass auch ich immer nickte, wenn meine Klienten sprachen. Daraufhin war ich wieder etwas besorgter.
Er meinte jedenfalls, ich würde an einer bestimmten Form von Verhaltensstörung leiden. Die Scheidung sei für meine Psyche so etwas wie eine Zeitbombe gewesen, die irgendwann einen Einbruch, oder besser eine ganze Kettenreaktion von Einbrüchen,
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