Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
hätten, aber laut sagte ich das nicht. Laut sagte ich, dass ich ihn natürlich zerreißen würde, worauf sie verlangten, dass ich es in ihrer Anwesenheit täte, denn sonst überlegte ich es mir womöglich noch mal anders und fertigte klammheimlich doch die zehn Abschriften an.
Kurz, ich war gezwungen, den Brief vor ihren Augen zu vernichten, und als ich damit fertig war, meinte einer von ihnen, ich solle mir keine Sorgen machen: Wenn es so weit wäre, würden sie sich darum kümmern, dass ich in einer netten Irrenanstalt unterkam.
Und nun, achtzehn Jahre später, war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich allen Ernstes befürchtete, die Prophezeiung könne in Erfüllung gehen.
Leider war die Angst vor einer neuen Panikattacke und vor dem Verrücktwerden nicht mein einziges Problem.
Ich begann auch noch an Schlaflosigkeit zu leiden. Nachts machte ich kaum ein Auge zu, meistens nickte ich erst in den frühen Morgenstunden ein.
Hin und wieder überkam mich der Schlaf zu normaleren Uhrzeiten, aber dann wachte ich grundsätzlich nach zwei Stunden wieder auf und hielt es im Bett nicht mehr aus. Wenn ich es trotzdem versuchte, quälten mich unerträgliche, tieftraurige Gedanken. Darüber, wie ich mein Leben verschwendet hatte, über meine Kindheit. Und über Sara.
Letzten Endes stand ich dann doch auf und lief ziellos durch die Wohnung. Ich rauchte, trank, sah fern und schaltete mein Handy ein – in der absurden Hoffnung auf einen nächtlichen Anruf.
Irgendwann begann ich zu fürchten, die Leute könnten mir etwas anmerken. Vor allem aber fürchtete ich, die Kontrolle zu verlieren. In dieser Verfassung brachte ich den ganzen Sommer zu.
Anfang August hatte ich niemanden gefunden – ehrlich gesagt, auch gar nicht gesucht – der mit mir verreist wäre, und alleine fortzufahren traute ich mich nicht. So trieb ich mich wie ein Vagabund in der Gegend herum, ließ mich bald von einem, bald von einem anderen Freund in ein Ferienhaus oder einen Trullo einladen, ans Meer oder aufs Land. Viele Sympathien dürfte ich mir dabei nicht erworben haben.
Die Leute fragten mich, ob ich schlecht drauf sei, und ich sagte, ja, ein bisschen; länger dauerten diese Gespräche für gewöhnlich nicht. Nach ein paar Tagen hatte ich meist das Gefühl, dass es an der Zeit war, die Koffer wieder zu packen und mich nach einem anderen Zufluchtsort umzuschauen, bestrebt, meine Rückkehr in die Stadt so lange wie möglich hinauszuzögern.
Im September beschloss ich, zu meinem Hausarzt zu gehen, der auch ein Freund war. Mein Zustand hatte sich keinen Deut gebessert, und ich hielt es ohne Schlaf einfach nicht mehr aus. Ich wollte, dass er mir ein Schlafmittel verschrieb.
Er untersuchte mich, hörte sich die Schilderung meiner Symptome an, maß meinen Blutdruck, leuchtete mir mit einem Lämpchen in die Augen, ließ mich ein paar ziemlich idiotische Gleichgewichtsübungen machen und meinte zum Schluss, es sei vielleicht besser, ich wandte mich an einen Spezialisten.
»Was soll das heißen? Was für einen Spezialisten meinst du?«
»Na ja, einen Facharzt für diese Art von Problemen.«
» Was für Probleme? Verschreib mir ein Schlafmittel, und damit hat sich die Sache.«
»Guido, ganz so einfach ist das nicht. Du wirkst sehr angespannt. Mir gefällt nicht, wie du um dich blickst. Mir gefällt nicht, wie du dich bewegst, mir gefällt nicht, wie du atmest. Ich muss es dir sagen: Mit dir stimmt etwas nicht. Du musst dich von einem Spezialisten untersuchen lassen.«
»Du meinst, ich soll zu einem...« Mein Mund war wie ausgetrocknet. Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf: Vielleicht meinte er, ich solle zu einem Internisten. Oder einem Homöopathen. Oder einem Masseur. Oder einem Ayurveda-Therapeuten.
Na gut, wenn ich unbedingt zu einem Internisten, Masseur, Ayurveda-Therapeuten oder Homöopathen soll, dann geh ich eben, scheiß drauf. Ich wehre mich nicht gegen eine Behandlung.
Oder glaubst du etwa, ich habe Angst, weil... EIN PSYCHIATER? Hast du Psychiater gesagt?
Tränen stiegen mir in die Augen. Ich war verrückt geworden, jetzt bescheinigte es mir auch mein Arzt. Die Prophezeiung war in Erfüllung gegangen.
Ich sagte, einverstanden, aber für den Moment solle er mir erst einmal ein Schlafmittel verschreiben, dann wolle ich weitersehen. Doch, wirklich, ich hätte nicht die geringste Absicht, das Problem zu unterschätzen, tschüss dann, nein, vorerst brauche er mir keinen – ausgedörrter Mund – keinen von diesen Dingsda zu
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