Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
stimmt aber nicht. Viele meiner Kollegen lesen gern.«
Er hatte fast keine dialektale Färbung und schien seine Worte sorgsam zu wählen. Er verwendete sie so vorsichtig, als wären sie empfindliche und auch ein wenig gefährliche Gegenstände. Rasierklingen.
»Ach ja, das kann ich mir schon vorstellen. Aber Sie haben hier ja eine Art Bibliothek.«
»Weil ich gern mehrere Bücher gleichzeitig lese. Je nach Stimmung. Also nehme ich mehrere mit, von denen ich einige fertig lese. Die anderen lasse ich im Auto, und so häufen sie sich an.«
»Ich lese auch gern mehrere Bücher gleichzeitig. Was lesen Sie denn gerade?«
»Einen Roman von Simenon. Er gefällt mir auch deshalb, weil ein Teil der Geschichte im Auto spielt, und ich sitze ja ständig im Auto. Ich habe das Gefühl, dass ich das Buch dadurch besser verstehe als andere. Und dann die Gedichte von García Lorca. Ich mag Lyrik, auch wenn das eine anspruchsvollere Lektüre ist. Und wenn ich müde bin, lese ich die anderen.« Er zeigte auf einen der kommerziellen Krimis. Er nannte weder den Namen des Autors noch den Titel, und das fand ich richtig von ihm. Ich fand, dass die Art und Weise, wie er über seine aktuelle Lektüre und die darin enthaltene Hierarchie sprach, eine präzise, prägnante und gut durchdachte Ästhetik zum Ausdruck brachte, und das gefiel mir. Ich versuchte, sein Gesicht besser zu erkennen, das ich von hinten und im Rückspiegel nur undeutlich sehen konnte. Er schien um die fünfunddreißig zu sein, war blass und hatte einen Anflug von Schüchternheit in den Augen.
»Woher kommt diese Leidenschaft für die Literatur?«
»Wenn ich Ihnen das erzähle, werden Sie mir nicht glauben.«
»Erzählen Sie es mir.«
»Bis zu meinem achtundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich kein Buch in die Hand genommen außer meinen Schulbüchern. Aber dazu muss ich sagen, dass ich eine Behinderung hatte: Ich stotterte. Ziemlich schlimm. So was kann einem das Leben ruinieren, wissen Sie.«
Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass er mich ja nicht sehen konnte, jedenfalls nicht gut.
»Ich kann es mir vorstellen. Aber jetzt sprechen Sie sehr gut«, sagte ich. Aber ich dachte daran, wie vorsichtig, behutsam er mit den Worten umging.
»Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich bin zu einer Logopädin gegangen und habe mein Stottern behandeln lassen. Es war ein Kurs, bei dem wir laut aus Büchern vorlesen mussten.«
»Und so haben Sie mit dem Lesen angefangen?«
»Ja. Ich habe die Bücher entdeckt. Und als der Kurs zu Ende war, habe ich weiter gelesen. Es heißt ja, dass nichts nur durch Zufall geschieht. Vielleicht musste ich stottern, damit ich das Lesen entdeckte. Ich weiß es nicht. Aber mein Leben hat sich seitdem vollkommen verändert. Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, wie ich früher meine Tage verbracht habe.«
»Das ist wirklich eine schöne Geschichte. Ich wünschte, mir würde auch so etwas passieren.«
»Inwiefern? Lesen Sie denn nicht gern?«
»Doch, doch, sehr sogar. Vielleicht ist es sogar meine Lieblingsbeschäftigung. Ich wollte sagen, dass ich wünschte, irgendetwas würde sich radikal verändern, so wie bei Ihnen.«
»Ach so«, sagte er. Dann blieben wir stumm, während das Auto auf der Taxispur die Via Ostiense entlangglitt.
Wir gelangten zur Piazza Cavour, ohne in irgendeinen Stau zu geraten. Mein neuer Freund hielt an, schaltete den Motor aus und drehte sich zu mir um. Ich dachte, er wolle mir sagen, was ich ihm schulde, und fasste nach meiner Brieftasche.
»Es gibt einen Satz von Paul Valéry …«
»Ja?«
»Der geht ungefähr so: Der beste Weg, die eigenen Träume wahrzumachen, besteht darin aufzuwachen.«
Wir sahen uns noch eine Weile an. In den Augen dieses Mannes war etwas Komplizierteres als Traurigkeit. So etwas wie zur Gewohnheit gewordene Angst, die er beherrschen gelernt hatte, weil er wusste, dass sie immer da sein würde, immer auf der Lauer. In meinen Augen lag vermutlich Staunen. Ich fragte mich, ob ich jemals etwas von Valéry gelesen hatte. Ich war mir nicht sicher.
»Ich dachte, dieser Satz könnte eine Anregung für Sie sein, aufgrund dessen, was Sie vorher gesagt haben. Über Veränderungen. Ich weiß nicht, ob es anderen Leuten auch so geht, aber ich möchte das, was ich lese, gern mitteilen. Wenn ich einen Satz wiederhole, den ich gelesen habe, oder einen Gedanken oder ein Gedicht, dann habe ich ein wenig das Gefühl, auch daran beteiligt zu sein. Und das finde ich sehr schön.«
Die letzten
Weitere Kostenlose Bücher