Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Pension war für drei Monate im Voraus bezahlt worden, das heißt für die Dauer der schriftlichen Prüfungen. Und so erlebte ich, während meine Freunde sich mit Straf- und Zivilrecht herumschlugen, in dieser Stadt die schönsten Ferien meines Lebens. Da ich nichts zu tun hatte, machte ich lange Spaziergänge, kaufte billige Bücher, legte mich auf die Parkbänke der Villa Borghese, las und schrieb sogar. Ein paar grauenhafte Gedichte, die Gott sei Dank verloren gegangen sind. Auf der Spanischen Treppe lernte ich zwei übergewichtige Amerikanerinnen kennen, mit denen ich eine Pizza essen ging. Die Einladung auf ihr Zimmer hingegen schlug ich aus, denn ich glaubte, verschwörerische Blicke zwischen ihnen zu bemerken, und angesichts der Tatsache, dass jede von ihnen zwischen achtzig und neunzig Kilo wog, wollte ich kein Risiko eingehen.
Die Welt wimmelte von unendlichen Möglichkeiten in jenem milden, unerwarteten römischen Frühling, während ich auf der Schwelle zwischen dem »nicht mehr« meines Daseins als Jugendlicher und dem »noch nicht« meines Erwachsenenlebens zögerte. Sie war ein schmaler Streifen, gezeichnet von Begeisterung und Vergänglichkeit. Es war schön, dort zu stehen. Und nur das Vergängliche ist perfekt.
All das fiel mir in dieser Stunde wieder ein, die mir aufgrund einer merkwürdigen Alchemie so schwebend und leicht erschien wie jene Tage vor zwanzig Jahren. Ich hatte das unsinnige, berauschende Gefühl, das Band würde sich neu aufwickeln und ich könnte noch einmal von vorne anfangen. Es war ein Schauern, eine Vibration. Sehr angenehm.
Dann merkte ich, dass es schon zehn Uhr war, und um nicht zu spät zu kommen, ging ich schnell zur Piazza Cavour zurück.
3
W enn man zum Obersten Gerichtshof geht, ist die erste Etappe der Robenraum.
Die Robe ist obligatorisch für alle Verhandlungen am Obersten Gerichtshof, aber abgesehen von den in Rom ansässigen Anwälten bringt kaum jemand seine eigene mit. Vielmehr leiht man sich eine, als wäre es ein Bühnenkostüm oder eine Karnevalsverkleidung.
Wie immer hatte sich vor dem Robenraum eine kleine Schlange gebildet. Ich suchte nach einem bekannten Gesicht, aber ich sah niemanden, den ich kannte. Dafür stand direkt vor mir jemand, der aussah wie das Endergebnis von generationenlanger, intensiver Inzucht. Er hatte dichte schwarze Augenbrauen, verstörend blond gefärbte Haare mit roten Strähnen darin und einen Unterbiss und trug einen alpin anmutenden grünen Janker. Ich stellte mir sein Fahndungsfoto vor, unter der Schlagzeile »Ring von Kinderschändern ausgehoben«, oder sein Konterfei auf einem Wahlplakat mit einer rassistischen Kampfansage.
Ich lieh mir eine Robe und versuchte krampfhaft, nicht an ihr zu riechen, denn das hätte mir den ganzen Vormittag verdorben. Wie immer dachte ich ein paar Sekunden lang daran, wie viele Anwälte sie wohl schon angehabt hatten und wie viele Fälle sie schon miterlebt hatte. Dann sagte ich mir wie immer, dass das ein banaler Gedanke war, und machte mich auf den Weg zum Verhandlungsraum.
Mein Prozess kam als einer der ersten dran, und eine halbe Stunde nach Beginn der Verhandlungen war ich an der Reihe.
Der Bericht erstattende Richter fasste in wenigen Minuten die Prozessgeschichte zusammen, erklärte, warum mein Mandant verurteilt worden war, und erläuterte schließlich die Gründe für meinen Einspruch.
Der Angeklagte war der jüngste Sohn eines angesehenen Anwalts aus Bari. Zu der Zeit, um die es ging, das heißt vor etwa acht Jahren, war er einundzwanzig Jahre alt und studierte mit äußerst mäßigen Ergebnissen an der Fakultät für Jura. Sehr viel bessere Ergebnisse erzielte er als Kokaindealer. Er war sehr bekannt bei allen, die in bestimmten Milieus Koks oder gelegentlich auch andere Stoffe brauchten. Diesen Job verrichtete er gewissenhaft, pünktlich und zuverlässig. Er lieferte frei Haus und ersparte auf diese Weise seinen Kunden das peinliche Herumirren auf der Suche nach einem Dealer.
Nachdem alle ihn kannten und alle wussten, was er tat, wurden schließlich auch die Carabinieri auf ihn aufmerksam. Sie überwachten sein Handy und beschatteten ihn ein paar Wochen lang, und als der passende Moment gekommen war, durchsuchten sie seine Wohnung und seine Garage. In dieser Garage fanden sie ein knappes Pfund erstklassigen venezolanischen Kokains. Zuerst versuchte er sich herauszureden, indem er behauptete, die Drogen gehörten nicht ihm, auch andere Hausbewohner hätten Zugang zu der
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