Gut gegen Nordwind
gewendet. All das, was Sie mir erzählt haben, hätten Sie Ihrer Frau erzählen müssen, und zwar schon viel früher, gleich von Anfang an. Ich würde Ihnen dringlich empfehlen: Tun Sie es! Holen Sie es nach! Im Übrigen ersuche ich Sie, mir keine E-Mails mehr zu senden. Ich glaube, es ist alles gesagt, was Sie meinten, mir sagen zu müssen. Es war bereits viel zu viel. Freundlicher Gruß, Leo Leike.
15 Minuten später
AW:
Hallo Emmi, ich komme gerade von einer Dienstreise aus Köln zurück. Tut mir Leid, es ging dort so turbulent zu, ich hatte nicht einmal ein paar ruhige Minuten, um Ihnen zu schreiben. Ich hoffe, in Ihrer Familie ist gesundheitlich wieder so weit alles in Ordnung. Ich werde die Schönwetterphase ausnützen und für ein paar Tage verreisen, irgendwo in den Süden, wo ich einmal für niemanden erreichbar bin. Ich glaube, das brauche ich, ichfühle mich schon ziemlich ausgelaugt. Wenn ich zurück bin, melde ich mich wieder. Ich wünsche Ihnen angenehme Sommertage – und möglichst wenige ausgekegelte Kinderarme. Alles, alles Liebe, Leo.
Fünf Minuten später
RE:
Wie heißt sie?
Zehn Minuten später
AW:
Wie heißt wer?
Vier Minuten später
RE:
Leo! Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz und meinen Leo-Spürsinn. Wenn Sie einmal über turbulente Dienstreisen und auszunützende Schönwetterphasen schwadronieren, Ihre Ausgelaugtheit beklagen, Ihre Unerreichbarkeit ankündigen und mir angenehme Sommertagswünsche androhen, dann gibt es für mich nur eines: EINE! Wie heißt sie? Doch nicht etwa – Marlene?
Acht Minuten später
AW:
Nein, Emmi, Sie irren. Es gibt da weder Marlene noch sonst wen. Ich muss mich einfach einmal zurückziehen. Die vergangenen Wochen und Monate haben mich aufgerieben. Ich brauche Erholung.
Eine Minute später
RE:
Erholung von mir?
Fünf Minuten später
AW:
Erholung von mir! Ich melde mich in einigen Tagen wieder. Versprochen!
Drei Tage später
Betreff: Leo fehlt!
Hallo Leo, ich bin es. Ich weiß, Sie sind nicht da, Sie erholen sich gerade von sich selbst. Wie macht man das eigentlich? Ich wünschte, ich könnte das auch. Ich brauche gerade dringend Erholung von mir. Stattdessen beschäftige ich mich mit mir und reibe mich dabei auf. Leo, ich muss Ihnen etwas gestehen. Das heißt: Ich muss es natürlich nicht, es ist auch gar nicht gut, dass ich es tue, aber es drängt mich einfach dazu. Leo: Ich bin momentan überhaupt nicht glücklich. Und wissen Sie warum? (Sie wollen es vermutlich gar nicht wissen, aber Sie haben keine Chance, tut mir Leid.) Ich bin nicht glücklich – ohne Sie. Zu meinem Glück gehören E-Mails von Leo. Zu meinem Glück fehlen mir E-Mails von Leo. Zu meinem Pech fehlen mir diese E-Mails zu meinem Glück gerade sehr. Seit ich Ihre Stimme kenne, fehlen sie mir gleich dreimal so sehr.
Ich habe den gestrigen Abend und einige Nachtstunden mit Mia verbracht. Es war das erste gute Treffen mit ihr seit vielen Jahren. Und wissen Sie, warum? (Sehr gemein, ich weiß, aber das müssen Sie sich jetzt anhören.) Das Treffen war gut, weil ich endlich unglücklich war. Mia sagt, ich war im Grunde so wie immer, nur habe ich es diesmal zugegeben, vor mir selbst und auch vor ihr. Dafür ist sie mir dankbar. Klingt traurig, oder? Mia behauptet, ich habe mich auf sonderbare Weise, nämlich schriftlich, in Sie verliebt, Leo. Sie meint, ich kann ohne Sie derzeit gewissermaßen nicht leben, zumindest nicht glücklich. Und sie sagt: Sie kann das sogar verstehen. Ist das nicht fürchterlich? Dabei liebe ich doch an sich meinen Mann, Leo. Ganz ehrlich. Ich habe ihn ausgesucht, ihn und seine Kinder, ihn und meine Kinder. Ich wollte diese Familie und keine andere, bisheute nicht. Es waren damals tragische Umstände, das erzähle ich Ihnen ein andermal. (Fällt Ihnen auf, ich rede freiwillig über meine Familie ...) Bernhard hat mich nie enttäuscht und würde mich nie enttäuschen. Nie, nie, nie! Er gibt mir alle Freiheiten, erfüllt mir alle Wünsche. Er ist so ein gebildeter, selbstloser, ruhiger, angenehmer Mann. Natürlich würgt einen mit der Zeit die Routine. Die Abläufe sind geregelt, es mangelt an Überraschungen. Wir kennen einander in-und auswändig, es gibt keine Geheimnisse mehr. »Vielleicht fehlt dir einfach nur das Geheimnis. Vielleicht hast du dich in ein knisterndes Geheimnis verliebt«, sagt Mia. »Was soll ich tun?«, sage ich: »Ich kann aus Bernhard nicht plötzlich ein knisterndes Geheimnis machen.«
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