Gut gegen Nordwind
Leo, was sagen Sie: Kann ich aus Bernhard ein knisterndes Geheimnis machen? Kann man aus acht Jahren Familienleben ein knisterndes Geheimnis machen?
Ach Leo, Leo, Leo. Mir fällt momentan einfach alles so schwer. Ich bin nicht gut drauf. Mir fehlt jeder Antrieb. Mir fehlt jede Lust. Mir fehlt – der eine und einzige Leo. Ich weiß nicht, wo das hinführen soll. Ich will es gar nicht wissen. Es ist mir egal. Hauptsache, Sie schreiben mir bald wieder. Bitte beeilen Sie sich mit Ihrer Vonsich-selbst-Erholung. Ich möchte wieder Wein mit Ihnen trinken. Ich will von Ihnen wieder geküsst werden wollen. (War das ein deutscher Satz?) Ich brauche keine wirklichen Küsse. Ich brauche den, der mich in manchen Situationen derart unbedingt dringend sofort küssen will, dass er nicht anders kann, als es mir zu schreiben. Ich brauche Leo. Ich komme mir so einsam vor mit meiner Whiskeyflasche. Ich habe so viel Whiskey getrunken, Leo. Merken Sie es? Wie wäre das wohl alles mit Ihnen, das Leben? Wie lange würden Sie mich unbedingt dringend sofort küssen wollen? Wochen, Monate, Jahre, immer? Ich weiß, ich soll nicht so denken. Ich bin glücklich verheiratet. Aber ich fühle mich unglücklich dabei. Das ist, glaube ich, ein Widerspruch. Der Widerspruch sind Sie, Leo. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Einen Whiskey trinke ich noch. Gute Nacht, Leo, Sie fehlen mir so sehr.
Ich würde Sie sogar blind küssen. Ja, das würde ich tun. Gerade jetzt.
Zwei Tage später
Betreff: Kein Wort
Dreißig Grad und kein Wort vom Vonsichselbsterholer. Ich weiß, meine E-Mail von vorgestern war an der Schmerzgrenze. Habe ich Ihnen zu viel zugemutet, Leo? Glauben Sie mir, es war der Whiskey! Der Whiskey und ich. Ich, was in mir drinnen steckt. Der Whiskey, was er aus mir herausgeholt hat. Sehnsüchtig, Emmi.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Südwind – und ich wälze mich dennoch im Bett herum. Ein einziger Buchstabe von Ihnen, und ich würde sofort einschlafen. Gute Nacht, mein lieber Vonsichselbsterholer.
Zwei Tage später
Betreff: Meine letzte Mail
Meine letzte Mail ohne Gegenmail! Leo, das ist echt brutal, was Sie da machen! Bitte hören Sie auf damit, es tut höllisch weh. Alles ist erlaubt, alles außer schweigen.
Am nächsten Tag
Betreff: Gegenmail
Liebe Emmi, ich habe nur ein paar Stunden gebraucht, um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, die mein Leben verändern wird. Aber ich habe neun Tage gebraucht, um Ihnen die Konsequenzen mitzuteilen. Emmi, ich übersiedle in wenigen Wochen für mindestens zwei Jahre nach Boston. Ich werde dort eine Projektgruppe an der Universität leiten. Der Job ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus finanzieller Sicht äußerst reizvoll. Meine Lebenssituation erlaubt es mir, so spontan zu sein. Es gibt wenige Dinge, die ich hier aufgeben muss. Offenbarliegt es in unserer Familie, irgendwann einmal den Kontinent zu wechseln. Fehlen werden mir ein paar enge Freunde. Fehlen wird mir meine Schwester Adrienne. Und fehlen wird mir: Emmi. Ja, die wird mir ganz besonders fehlen.
Ich habe noch eine zweite Entscheidung getroffen. Sie klingt so hart, dass mir die Finger zittern, wenn ich sie Ihnen jetzt schriftlich mitteilen muss, gleich nach dem Doppelpunkt: Ich beende unseren E-Mail-Kontakt. Emmi, ich muss Sie aus dem Kopf bekommen. Sie können nicht mein erster und mein letzter Gedanke jedes Tages bis ans Ende meines Lebens sein. Das ist krank. Sie sind »vergeben«, Sie haben Familie, Sie haben Aufgaben, Herausforderungen, Verantwortlichkeiten. Sie hängen sehr daran, es ist die Welt, in der sie glücklich sind, das haben Sie mir deutlich zu verstehen gegeben. (Mit hochprozentigen Sehnsuchts-Whiskey-Mischungen schreibt man sich schon einmal eine Unglücksstimmung herbei, wie in Ihrer letzten langen E-Mail, die ist aber spätestens beim Aufwachen am Tag danach wieder weg.) Ich bin überzeugt davon, dass Ihr Mann Sie liebt, wie man eine Frau nach so vielen Jahren Zusammensein nur lieben kann. Was Ihnen fehlt, dürfte lediglich ein bisschen außereheliches Abenteuer im Kopf sein, etwas Kosmetik für Ihren abgeschminkten Gefühlsalltag. Darauf gründet sich Ihre Zuneigung zu mir. Darauf stützt sich unsere Schreib-Beziehung. Sie stiftet vermutlich mehr Verwirrung, als sie auf Dauer bereichernd für Sie wäre.
Nun zu mir: Emmi, ich bin 36 (so, jetzt wissen Sie’s). Ich habe nicht vor, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, die nur in der Mailbox frei für mich ist. Boston gibt mir
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