Gut gegen Nordwind
auf Lebzeiten, meine ewige Treue, derer sie sich gewiss sein durfte? – Glauben Sie mir, Herr Leike, ich hätte nie gewagt, mich ihr zu nähern, hätte ich nicht gespürt, dass sie mir ein Bündel ebenso starker Gefühle entgegenbrachte wie ich ihr. In unübersehbarer Weise fühlte sie sich zumir und den Kindern hingezogen, wollte Teil unserer Welt sein, wurde Teil unserer Welt, prägender Teil, bestimmender Teil, Herzstück. Zwei Jahre später haben wir geheiratet. Das ist jetzt acht Jahre her. (Verzeihung, ich habe hiermit Ihr Versteckspiel gestört, habe eines der tausend Geheimnisse aufgedeckt: Die »Emmi«, die Sie kennen, ist 34 Jahre jung.) Keinen Tag hörte ich auf zu staunen, diese vitale junge Schönheit an meiner Seite zu haben. Und jeden Tag habe ich mit Bangen darauf gewartet, dass es »geschehen« wird, dass da ein Jüngerer sein wird, einer ihrer zahlreichen Verehrer und Anbeter. Und Emma würde sagen: »Bernhard, ich habe mich in einen anderen verliebt. Wie soll es nun weitergehen mit uns?« – Dieses Trauma ist ausgeblieben. Ein viel schlimmeres ist eingekehrt. Sie, Herr Leike, die stille »Außenwelt«. Liebesillusionen per E-Mail, sich stetig aufschaukelnde Gefühle, wachsende Sehnsucht, ungestillte Leidenschaft, alles auf ein nur scheinbar reales Ziel gerichtet, ein höchstes Ziel, das immer wieder weggeschoben wird, das Treffen aller Treffen, das nie stattfinden wird, weil es die Dimension des irdischen Glücks sprengen würde, die vollkommene Erfüllung, ohne Endpunkt, ohne Ablaufdatum, nur in den Köpfen lebbar. Dagegen bin ich machtlos.
Herr Leike, seit es Sie »gibt«, ist Emma wie verwandelt. Sie ist geistesabwesend und mir gegenüber distanziert. Stundenlang sitzt sie in ihrem Zimmer und starrt in den Computer, in den Kosmos ihrer Wunschträume. Sie lebt in ihrer »Außenwelt«, sie lebt mit ihnen. Wenn sie verklärt lächelt, gilt das längst nicht mehr mir. Mit Mühe gelingt es ihr, ihr Weggetretensein vor den Kindern zu verbergen. Ich merke, wie sehr sie sich quält, länger neben mir zu sitzen. Wissen Sie, wie weh das tut? Ich habe versucht, diese Phase mit großer Toleranz zu übergehen. Emma durfte sich nur niemals eingesperrt fühlen bei mir. Nie gab es Eifersucht zwischen uns. Aber plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich ansetzen sollte. Es war da ja nichts und niemand, keine reale Person, kein wirkliches Problem, kein offensichtlicher Fremdkörper – bis ich die Wurzel entdeckte. Ich könnte in denBoden versinken vor Scham, dass es so weit kommen musste: Ich habe in Emmas Zimmer spioniert. Und ich habe in einer versteckten Lade schließlich eine Mappe gefunden, eine dicke Mappe, voll gefüllt mit Schriftstücken: ihr gesammelter E-Mail- Verkehr mit einem gewissen Leo Leike, fein säuberlich ausgedruckt, Seite für Seite, Mitteilung für Mitteilung. Ich habe diese Skripten mit zitternden Händen kopiert und einige Woche erfolgreich von mir weggeschoben. Wir hatten einen grauenvollen Urlaub in Portugal. Der Kleine war krank, die Große hatte sich unsterblich in einen Sportlehrer verliebt. Meine Frau und ich schwiegen uns zwei Wochen an, aber jeder von beiden versuchte dem anderen vorzumachen, alles sei in bester Ordnung, wie es immer war, wie es sein musste, wie es uns die Gewohnheit befahl. Danach habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe die Mappe mit in den Wanderurlaub genommen – und ich habe in einem Anfall von Selbstzerfleischung und masochistischer Leidenswilligkeit sämtliche E-Mails in einer Nacht durchgelesen. Seit dem Tod meiner ersten Frau habe ich keine größeren seelischen Qualen durchgemacht, das können Sie mir glauben. Als ich mit der Lektüre fertig war, kam ich nicht mehr vom Bett hoch. Meine Tochter verständigte die Rettung, man brachte mich ins Spital. Von dort holte mich vorgestern meine Frau ab. Jetzt kennen Sie die ganze Geschichte.
Herr Leike, bitte treffen Sie sich mit Emma! Ich komme nun zum erbärmlichen Höhepunkt meiner Selbsterniedrigung: Ja, treffen Sie sich mit ihr, verbringen Sie eine Nacht mit ihr, haben Sie Sex mit ihr! Ich weiß, dass Sie es werden haben wollen. Ich »erlaube« es Ihnen. Sie haben meinen Freibrief, ich erlöse Sie hiermit von allen Skrupeln, ich betrachte es nicht als Betrug. Ich spüre, Emma sucht nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Nähe zu Ihnen, sie will es »wissen«, glaubt es zu brauchen, ihr verlangt danach. Das ist der Kitzel, das Neue, die Abwechslung, die ich ihr nicht bieten kann. So
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