Gut gegen Nordwind
Herr Leike, ich wende mich mit einer großen Bitte an Sie. Sie werden verblüfft oder gar schockiert sein, wenn ich die Bitte ausspreche. Ich werde im Anschluss daran versuchen, Ihnen die Beweggründe dafür darzulegen. Ich bin kein großartiger Schreiber, leider bin ich das nicht. Aber ich werde mich bemühen, in dieser für mich unüblichen Form all das auszusprechen, was mich seit Monaten beschäftigt, wodurch mein Leben nach und nach außer Tritt geraten ist, mein Leben und das meiner Familie, ja auch das Leben meiner Frau, ich glaube, ich kann das schonrichtig beurteilen, nach all den Jahren unserer harmonischen Ehe.
Und hier nun die Bitte: Herr Leike, treffen Sie sich mit meiner Frau! Bitte tun Sie es endlich, damit der Spuk sein Ende hat! Wir sind erwachsene Menschen, ich habe Ihnen nichts vorzuschreiben. Ich kann Sie nur flehentlich bitten: Treffen Sie sie! Ich leide unter meiner Unterlegenheit und Schwäche. Was glauben Sie, wie erniedrigend es für mich ist, solche Zeilen zu formulieren. Sie dagegen haben sich nicht die geringste Blöße gegeben, Herr Leike. Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Ja, und ich, auch ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen, leider, leider habe ich das nicht. Einem Geist kann man nichts vorwerfen. Sie sind nicht greifbar, Herr Leike, nicht antastbar, Sie sind nicht real, Sie sind ein einziges Fantasiegebilde meiner Frau, Illusion vom unendlichen Glück der Gefühle, weltferner Taumel, Liebesutopie, aus Buchstaben gebaut. Dagegen bin ich machtlos, ich kann nur warten, bis das Schicksal gnädig ist und aus Ihnen endlich einen Menschen aus Fleisch und Blut macht, einen Mann mit Konturen, mit Stärken, mit Schwächen, mit Angriffsflächen. Erst wenn meine Frau Sie so sehen kann, wie sie mich sieht, einen Verwundbaren, eine unperfekte Schöpfung, ein Exemplar des Mangelwesens Mensch, erst wenn Sie ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten sind, schwindet Ihre Übermacht. Erst dann habe ich die Chance, Ihnen Paroli zu bieten, Herr Leike. Erst dann kann ich um Emma kämpfen. »Leo, zwingen Sie mich nicht, mein Familienalbum aufzublättern«, hat Ihnen meine Frau einmal geschrieben. Nun, statt ihrer sehe nun ich mich gezwungen, es zu tun. Als wir uns kennen lernten, war Emma 23, ich war ihr Klavierlehrer auf der Musikakademie, vierzehn Jahre älter als sie, gut verheiratet, Vater zweier entzückender Kinder. Ein Verkehrsunfall hat aus unserer Familie einen Trümmerhaufen gemacht, der Dreijährige traumatisiert, die Große schwer verletzt, ich selbst mit bleibenden Schäden behaftet, die Mutter der Kinder, meine Frau Johanna: tot. Ohne Klavier wäre ich daran zerbrochen. Aber Musikist Leben, solange sie erklingt, stirbt nichts für immer. Wenn man Musiker ist und spielt, lebt man Erinnerungen, als wären sie unmittelbare Ereignisse. Daran habe ich mich aufgerichtet. Und dann waren da auch meine Schüler und Schülerinnen, da war Ablenkung, da war eine Aufgabe, da war Sinn. Ja, und da war plötzlich – Emma. Diese lebendige, sprühende, kecke, bildhübsche junge Frau begann, unsere Trümmer aufzusammeln, ganz von selbst, ohne sich etwas davon zu versprechen oder zu erwarten. Solche außergewöhnlichen Menschen sind in die Welt gesetzt, um die Traurigkeit zu bekämpfen. Ganz wenige gibt es von ihnen. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe: Aber ich hatte sie plötzlich an meiner Seite. Die Kinder sind ihr zugelaufen, ja, und ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt.
Und sie? Herr Leike, jetzt werden Sie sich fragen: Ja, und Emma? Hat sie, die 23-jährige Studentin, hat sie sich denn gar gleichermaßen verliebt, ausgerechnet in diesen bald vierzig Jahre alten Ritter von der traurigen Gestalt, den damals nur noch Tasten und Töne zusammenhielten? – Diese Frage kann ich weder Ihnen noch mir selbst beantworten. Wie sehr war es nur die Bewunderung für meine Musik (ich hatte damals recht gute Erfolge, war ein gefeierter Konzertpianist)? Wie viel davon war Mitleid, Anteilnahme, der Wunsch zu helfen, die Fähigkeit, da zu sein in schlimmen Stunden? Wie sehr erinnerte ich sie an ihren Vater, der sie zu früh verlassen hatte? Wie viele Narren hatte sie an der süßen Fiona gefressen und an dem goldigen kleinen Jonas? Wie sehr war es meine eigene Euphorie, die sich in ihr widerspiegelte, wie sehr liebte sie nur meine unbändige Liebe zu ihr und nicht mich selbst? Wie sehr genoss sie die Sicherheit, dass ich sie niemals einer anderen Frau wegen enttäuschen würde, die Verlässlichkeit
Weitere Kostenlose Bücher