Gute Leute: Roman (German Edition)
beharrlich zu Boden gerichtet hielt und das Handgelenk seines Vaters drückte, als wollte er ihn zum Schweigen bringen, schenkte er keine Beachtung.
»Diese Bonzen sind schamlos«, rief eine junge Frau und streichelte ihren kleinen Sohn.
»Jawohl, schamlos«, knurrte sein Vater.
Im weitläufigen Konferenzraum ließ sich der verschwitzte Thomas auf den ihm vorbehaltenen Stuhl sinken, der im Vergleich zu den anderen ein wenig erhöht war. Das weiße Licht schlug ihm ins Gesicht. Mehrfach hatte er bereits vergeblich darum gebeten, die Lampen in diesem Raum auszutauschen.
Immerhin war nun klar, dass die liebe Frau Stein gewitzter war, als er gedacht hatte. Jetzt verstand er, warum sie ausgerechnet heute bei ihnen aufgetaucht war, nachdem bekannt war, dass vom Rath tot war. Der deutsche Botschaftssekretär in Paris war dem Attentat eines polnischen Juden erlegen. Das würde Folgen für die deutschen Juden haben, auch für Frau Stein. Diese Frau war eine Plage, die ihn seit seiner Kindheit verfolgte. Nur zu gern hätte er sie der Obhut Hermanns und seiner Kameraden überlassen.
Es war schon fast sieben und Carlson Mailer noch immer nicht aufgetaucht. Das war einigermaßen sonderbar, denn die Zusammenkunft mit den Leuten von Daimler-Benz war wichtig für Carlson, der noch immer, zumindest offiziell, als Direktor der Firma fungierte. Faktisch führten sie beide das Unternehmen gemeinsam, aber Carlson war das letzte Wort vorbehalten. Er war etwa in Thomas’ Alter, ein hoch aufgeschossener Mann mit den Kieferknochen eines Raubtieres, der sein Haar kurz geschoren trug. In seinen schwarzen Augen lag notorische Langeweile, ein Ausdruck, der in Thomas immer den Wunsch weckte, ihn trotz allem für etwas zu interessieren. Vor allem aber ärgerte er sich über die Wertschätzung, die Carlson allgemein erfuhr, zumal er seinerseits anderen das Gefühl vermittelte, dass sie ihm nur seine Zeit stahlen. Carlson Mailer schlug verborgene Saiten in der Seele seiner Gesprächspartner an, löste in Menschen den Impuls aus, ihm zu gefallen, selbst wenn dies bar jeder geschäftlichen Vernunft war. Der Mann erfuhr Wertschätzung, ohne in seinem Leben auch nur eine einzige brillante Idee ersonnen zu haben, allein durch seinen Habitus.
Im Gegensatz zu Carlson war Thomas in großen Sprüngen aufgestiegen. Etwa ein Jahr nachdem er zu Milton gestoßen war, hatte er die Abteilung für »Deutsche Kaufpsychologie« geschaffen. Im Sommer 1929 war die Führungsebene von Milton zur ibero-amerikanischen Ausstellung nach Sevilla gereist, und er wurde ausgewählt, als Repräsentant der deutschen Niederlassung mitzufahren. Frau Günther, die nicht berücksichtigt wurde, war zutiefst beleidigt gewesen.
Auf jener schicksalhaften Reise kam ihm die Idee, die sein Leben verändern sollte: Er stand zwischen Jack Fist und Carlson Mailer im Säulengang des halbkreisförmigen Baus der Plaza de España, des spektakulären Ensembles, das zu Ehren der Ausstellung erbaut worden war, ließ seine Finger über den Terrakottaputz gleiten, und seine Augen weideten sich an dem unter ihm liegenden Platz, an dem mit Mosaiken und Kachelornamenten geschmückte Bänke den verschiedenen spanischen Provinzen gewidmet waren. Plötzlich überspülte eine warme Woge seinen Körper, er schloss die Augen und sah in seiner Phantasie einen ähnlichen Platz wie diesen, das Zentrum und Herz der Milton-Group, und sie, die Direktoren, würden unter den erhöhten Arkaden stehen und auf die Dependancen der Abteilung »Kaufpsychologie« hinuntersehen, auf die Abteilungen für die französische, die spanische und die englische Seele.
Zwei Jahre sollten vergehen, ehe sich die deutsche Niederlassung nach der Weltwirtschaftskrise wieder erholt hatte. Als der richtige Zeitpunkt gekommen war, hatte Thomas, in ebendiesem Raum, Mailer seinen großen Expansionsplan vorgelegt. Carlson verplemperte zwei Monate mit Zweifeln und Bedenken, doch am Ende, nachdem Thomas den ehemaligen Direktor von Milton-Berlin, Jack Fisk, eingeschaltet hatte, der in der Zwischenzeit nach New York zurückgekehrt und zum Vizepräsidenten des Unternehmens ernannt worden war, sah er sich gezwungen, den Plan abzusegnen. Es begann eine wunderbare Zeit, die bislang beste in seiner Karriere. Er reiste nach Rom, nach Warschau, London und Paris, lernte verschiedene Gesellschaften und Kulturen kennen, von denen jede unterschiedliche Parameter und Anforderungen bereithielt. Als Carlson bei einer der Sitzungen launig bemerkte, »Ich
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