Gute Leute: Roman (German Edition)
Berlin, Herbst 1938
Menschen begegnen Menschen. Die meisten Geschichten gehen so. Und bis einer nicht seinen letzten Atemzug getan hat, ist das Urteil der Einsamkeit nicht endgültig. Man sieht die Welt vor Menschen aus allen Nähten platzen und lässt sich verführen zu glauben, mit Leichtigkeit werde man die eigene Einsamkeit vertreiben können. Was soll daran so schwer sein? Ein Mensch tritt zu einem anderen, beide begeistern sie sich für die »Götterdämmerung« oder für die letzte Inszenierung von Hauptmann, beide haben sie Aktien von »Thompson Broken-Heart Solutions« erworben (»Das Herz ist die Epidemie des 20. Jahrhunderts«) – und schon ist ein Bund geschlossen. Fürwahr, eine schöne Illusion, die dem Staat, der Gesellschaft und dem Markt höchst nützlich ist. Denn ihretwegen kaufen auch die einsamsten Seelen Anzüge, Aktien und Automobile, werfen sich für einen Ball in Schale.
Durch das Fenster sah er sie in der Pelzjacke, die sie auch trug, als sie dieses Haus das letzte Mal verlassen hatte. Nicht aus freien Stücken hatte sie es verlassen, schließlich hielt die Welt draußen nichts für sie parat. Aber sie hatten nicht mehr das Geld, sie noch weiter zu beschäftigen. Hatten sie entlassen und ihr die weiße Pelzjacke geschenkt, die inzwischen reichlich grau geworden war. Abschied ist immer Gelegenheit für einen Neuanfang: Vielleicht passiert einem etwas Gutes, vielleicht findet sich eine andere Arbeitsstelle, vielleicht wird der Firnis der Einsamkeit rissig.
Mit kleinen Schritten kam sie näher – ein wenig zugenommen hatte sie, die Frau Stein – Schritten, die zu sagen schienen, »Nicht hersehen, hier gibt es nichts zu sehen«. Das nannte man wohl Ironie der Geschichte: Die Ereignisse der letzten Zeit in Berlin hatten Juden wie ihr gute Gründe geliefert, im Schatten Zuflucht zu suchen.
Seine Augen begutachteten die unbedeckten Teile ihres Körpers: Das flache Gesicht, gerötet von dem kalten Wind, der grazile Hals, dessen Anmut immer schon in groteskem Widerspruch zu ihrem gedrungenen Körper gestanden hatte, wie ein Kern von Schönheit, die unter anderen Lebensumständen hätte erblühen können. Ihre Einsamkeit war vollkommen, das war klar. Er hatte keinen Zweifel, dass sie, außer bei Besorgungen und Einkäufen, in den letzten Jahren kaum mit Menschen gesprochen hatte.
Ein Wagen hielt neben ihr. Zwei Männer saßen vorne. Sie sah nicht zu ihnen hin, aber aus jeder Faser ihres Körpers sprach das Wissen um ihre Existenz. Mit einer hastigen Bewegung strich sie sich eine graue Locke aus der Stirn und schritt langsam hinter eine steinerne Umfriedung. Thomas folgte dem Wagen mit den Augen, bis er unter anderen Fahrzeugen auf der Straße verschwunden war. Einen Augenblick später tauchte Frau Stein wieder auf und es schien ihm, als hätte sie sein Gesicht im Fenster bereits bemerkt.
Wie sehr hatte seine Mutter ihren Weggang bedauert. Frau Stein hatte zur Familie gehört, hatte die Leerstellen ausgefüllt – die der Schwester, die seine Mutter nicht hatte, zum Beispiel –, bis sie die scheinbar Unentbehrliche eines Tages doch entließen. Letzten Endes, als die Rente, die seine Mutter erhielt, unter der Inflation spärlich geriet und die Existenz in Gefahr stand, war Blut dicker als Tinte und die Anstellung damit beendet gewesen.
Ein Klopfen an der Tür. »Guten Tag, Frau Stein«, sagte Thomas. Sie nickte kurz und ihr strenger Blick fegte ihn zur Seite. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Augen: Die Jahre hatten der Animosität zwischen ihnen nichts anhaben können.
Für einen Moment empfand er Genugtuung über ihre Schmach als Jüdin, die in Zeitungen, im Gesetzbuch und auf Schildern festgeschrieben war. Von nahem gewahrte er auch deren Spuren: Im Gesicht von Frau Stein hatte sich eine gequälte Gehetztheit eingegraben. Die Seele, genau wie der niedergedrückte Körper, erwartete den nächsten Schlag. Mit jedem Winkel der Wohnung vertraut, eilte sie den schummrigen Korridor hinunter und verschwand im Schlafzimmer ihrer Herrin. Er stand noch einige Zeit erstarrt an der Tür und eilte ihr dann nach. Sie hatte etwas vor, soviel war klar.
Bis er sie eingeholt hatte, hatte sie bereits Gelegenheit gefunden, ihre Jacke in den Schrank zu hängen und auf dem Bett seiner Mutter Platz zu nehmen. Deren Augen drückten keinerlei Erstaunen aus, als die Frau, die sie seit mehr als acht Jahren nicht mehr gesehen hatte, sich über sie beugte und fragte, ob sie etwas brauche. Seine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher