Gute Leute: Roman (German Edition)
sehe, wir haben uns in der Firma einen kleinen Alexander den Großen herangezogen«, erwiderte Thomas, fest entschlossen, jede persönliche Polemik zu vermeiden, »du darfst keine Angst vor Herausforderungen haben, mein Freund. Es wird uns gelingen, ein gesamteuropäisches Netzwerk aufzubauen, das auf den ersten Blick nach festen Koordinaten und Regeln operiert, dabei jedoch der besonderen Mentalität des jeweiligen Standortes Rechnung trägt.«
Er machte die Bekanntschaft vieler Menschen, von denen einige großartige Ideen beisteuerten, und alle diese Begegnungen entzündeten einen nimmermüden Ehrgeiz in ihm. Seine Planung sah vor, dass es bis Ende 1940 in Europa insgesamt zehn Niederlassungen von Milton geben sollte. Zu nächtlicher Stunde, auf seinen Zugfahrten, phantasierte er schon von einem »Milton-Express«, der allein den Mitarbeitern des Unternehmens vorbehalten wäre. Er träumte von einem amerikanischen Riesen, der ihm die Hand reichte, und gemeinsam schwebten sie über den Ozean, eroberten den alten Kontinent im Handstreich. Und danach kämen Fernost, das britische Empire, Australien, Indien an die Reihe.
Thomas schreckte mit einem Mal auf. In den Konferenzraum war ein mittelgroßer Mann mit Brille getreten, dessen kräftige Arme in dem akkurat geplätteten Anzug eines höheren Beamten steckten und an dessen Hemdkragen eine goldene Anstecknadel prangte. Der Mann nickte Thomas zu und humpelte leicht zu dem Stuhl ihm gegenüber.
»Skiunfall in Cortina«, sagte er und zeigte auf sein ramponiertes Bein.
Der Mann ließ sich auf den Stuhl sinken, sah Thomas erneut an, wies dann mit dem Finger zur Tür und sagte leise: »Schließen Sie die, bitte.«
Während er der Aufforderung nachkam, gingen Thomas mehrere unliebsame Fragen durch den Kopf: Wo war Carlson? Und wo blieben die Leute von Daimler-Benz? Er verabscheute geschäftliche Treffen, auf die er sich nicht gründlich hatte vorbereiten können. Vor allem aber begriff er, dass sein Gegenüber ihn offenbar kannte, während Thomas keine Ahnung hatte, was der andere im Schilde führte.
»Die amerikanische Milton-Group und ihre ›Deutsche Kaufpsychologie‹. Ein sehr klingender Name«, brummte sein Gegenüber.
»Mir scheint, Sie interessieren sich für das Thema, anderenfalls hätten Sie uns nicht mit Ihrem Besuch beehrt.« Thomas streckte sich, als wollte er seine Geschmeidigkeit betonen. »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir erlauben, Ihnen ein wenig über unser Unternehmen zu erzählen.«
»Georg Weller«, stellte sein Gegenüber sich jetzt vor, wobei Thomas den Eindruck hatte, als gäbe er sich bei der Aussprache seines Namens wenig Mühe.
»Meine Name ist Thomas Heiselberg, und ich leite das Unternehmen gemeinsam mit Herrn Mailer.«
»Gewiss, gewiss«, erwiderte der Mann mit einem Anflug von Spott. »Vor lauter Begeisterung über Ihre beeindruckenden Büroräume habe ich meine guten Manieren glatt vergessen. Mir ist das Privileg zuteilgeworden, im Auswärtigen Amt als rechte Hand von Dr. Karl Schnurre zu fungieren. Ich war zufällig in der Nähe, und da fiel mir ein, dass Herr Mailer, den zu treffen ich kürzlich die Ehre hatte, mich einlud, ihn hier zu besuchen.«
»Dr. Schnurres Name weckt allgemein große Wertschätzung!«, rief Thomas aus. »Erst letzte Woche erzählte mir Herr Mailer von einem Treffen, auf dem es um die zu erwartenden Herausforderungen für das Auswärtige Amt ging, angesichts der schändlichen diplomatischen Angriffe aus Paris, London und Warschau.«
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer dieser Karl Schnurre war. Ihm war nur klar, dass Wellers Arbeit im Auswärtige Amt mit Europa zusammenhängen musste, und wenn sich dieser Schnurre mittels seines Adlatus für Milton interessierte, dann nur deshalb, weil die Firma außer der Filiale in Deutschland inzwischen drei Niederlassungen in Europa unterhielt: in Frankreich, Italien und Polen.
Weller legte die Stirn in Falten und seine Wangen blähten sich. Offenbar hatte er erwartet, dass sein Auftritt hier größere Ehrfurcht wecken würde. »Ich kenne das Unternehmen und seine Abteilung ›Deutsche Kaufpsychologie‹. Und ich habe von anderen europäischen Niederlassungen gehört: Paris, Rom und noch an einem dritten Ort, nicht wahr?«
»Unsere überaus erfolgreiche Filiale in Warschau, selbstverständlich«, sagte Thomas. Jetzt war er sich sicher, dass sein Gegenüber bestens im Bilde war. Ein derart amateurhaftes Manöver war ihm schon lange nicht mehr untergekommen.
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